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„Wir überschätzen unsere Bedeutung“Warum uns das Prinzip „Survival of the fittest“ nicht weiterbringt

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Die Welt mal aus der Perspektive von Bakterien begreifen lernen: Dafür plädiert Wissenschaftler Dirk Brockmann. teutopress GmbH via www.imago-im

Die Welt mal aus der Perspektive von Bakterien begreifen lernen: Dafür plädiert Wissenschaftler Dirk Brockmann. teutopress GmbH via www.imago-im

Neues entstehe in der Natur durch Kooperation – und eben nicht das Prinzip „Survival of the fittest“, sagt Wissenschaftler Dirk Brockmann im Interview. 

Herr Brockmann, Sie sagen, wir haben neue Perspektiven bitter nötig. In Ihrem Buch “Survival of the nettest” (2025) darf die Leserschaft beispielsweise in die Rolle einer außerirdischen Intelligenz schlüpfen, die unser Leben auf der Erde beobachtet …

Ich bin überzeugt, dass Perspektivwechsel sehr hilfreich sind – sie machen Phänomene vielschichtiger und eröffnen neue Sichtweisen. Wenn man zu lange nur in eine Richtung schaut, blendet man vieles aus. Es entstehen schnell Karikaturen im Kopf. Dabei ist es doch eine wunderbare Fähigkeit von uns Menschen, uns in andere hineinversetzen zu können. Gerade jetzt, wo wir mit so vielen Krisen gleichzeitig konfrontiert sind, ist es wichtig, geistig beweglich zu bleiben und eingefahrene Überzeugungen zu hinterfragen. Die Rezepte aus der Vergangenheit greifen nicht mehr.

Sie bringen da als ein Beispiel die Evolutionstheorie. So wie wir uns diese heute vergegenwärtigen, sei sie unvollständig.

Das Prinzip “Survival of the fittest” bedeutet ja, dass nur Arten überleben, die besonders gut angepasst sind. Das ist natürlich ein extrem starkes, wichtiges und wirksames Prinzip in der Evolution natürlicher Systeme. Und es wurde auch schnell auf unsere Gesellschaft übertragen: Wettbewerb, Konkurrenz um Ressourcen, permanentes Wachstum – diese Vorstellungen prägen bis heute unsere politischen und wirtschaftlichen Denkweisen. Aber sich allein darauf zu verlassen, führt aus meiner Sicht auf den Holzweg. Selbst Darwin hat schon erkannt, dass das nur eine Seite der Medaille ist. Innovation entsteht in der Evolution immer nur durch Kooperation.

Haben Sie da ein Beispiel?

Schlüpfen wir mal in die Perspektive von Bakterien. Sie existieren seit über vier Milliarden Jahren und dominieren bis heute erfolgreich die Erde. Mittlerweile weiß man, dass vor ca. zwei Milliarden Jahren zwei sehr verschiedene Urbaktieren zu einer komplexeren Zelle verschmolzen sind. Das war die Grundlage für höheres Leben: Pflanzen, Pilze, auch uns Menschen. Oder nehmen wir Flechten: Die bestehen oft aus einem Verbund von Pilz und Alge, manchmal mit einem photosynthetischen Bakterium. Durch diese Zusammenarbeit entsteht ein neuer Organismus. Das war eine Voraussetzung dafür, dass Pflanzen überhaupt an Land gehen konnten. Und auch heute, rund 600 Millionen Jahre später, leben praktisch alle Landpflanzen in Symbiose mit Pilzen.

Wir Menschen haben offenbar eine sehr eindimensionale Vorstellung davon, wozu Bakterien da sind. Sie machen krank, sind eklig, müssen weg.

Ja, das hat mit historischen Entwicklungen zu tun. Leute wie Robert Koch oder Louis Pasteur haben herausgefunden, dass Bakterien Krankheiten auslösen können – das war damals revolutionär. Koch war so etwas wie ein Superstar. Seither hat sich das Bild festgesetzt: Bakterien sind gefährlich, machen krank und müssen weg. Aber in Wirklichkeit ist das nur ein winziger Teil aller Bakterienarten. Heute wissen wir, dass viele Bakterien extrem wichtig für unsere Gesundheit sind. Trotzdem ist das alte Narrativ in vielen Köpfen noch immer präsent.

Auch unsere Vorstellung des Individualismus ist aus Sicht der Bakterien nicht haltbar.

Wir sehen uns als Individuen, aber biologisch betrachtet sind wir ein Ökosystem. Auf und in uns leben tausende Bakterienarten. Ohne sie wären wir krank oder könnten gar nicht überleben. Stichwort Mikrobiom: Etwa 30 Prozent der Substanzen in unserem Blut stammen von Bakterien. Einige dieser Bakterien beeinflussen sogar unser Nervensystem. Es gab noch nie eine Tierart, eine Pflanze oder einen Pilz, der ohne die Kooperation mit Bakterien ausgekommen wäre. Aus Sicht der Bakterien ist das total logisch. Für Bakterien sind wir ein neues Habitat.

Wir deuten biologische Prozesse in der Natur also unzureichend?

Ein gutes Beispiel sind Marineviren. Sie werden erst seit rund zwanzig Jahren genauer untersucht. Jeder Milliliter Meerwasser enthält bis zu 100 Millionen Viren. Ohne sie würde das gesamte System Meer innerhalb von Wochen zusammenbrechen. Diese Viren halten die Biosphäre in Balance. Aber kaum jemand kennt sie. Deshalb ist es so wichtig, solche Zusammenhänge zu erzählen, damit wir ein vollständigeres Bild von der Natur bekommen.

Die Korallenriffe sind auch so ein Beispiel, sagen Sie.

Korallenriffe sind die artenreichsten Ökosysteme im Meer – obwohl sie in sehr nährstoffarmen Gewässern entstehen. Das hat schon Darwin überrascht. Wie schaffen sie es, dort zu leben? Nährstoffarmut würde doch eigentlich dazu führen, dass nur die effizientesten Organismen überleben und alle anderen aussterben. Die Lebewesen in den Riffen, insbesondere die Korallen selbst, leben in zahlreichen Symbiosen mit anderen Mikroorganismen. Diese leben zum Beispiel in den Korallenzellen. Und man sieht dort noch etwas anderes: In der Natur ist ein fixes Geschlecht oft die Ausnahme. Etwa 30 Prozent der Fische im Riff wechseln ihr Geschlecht. Oder nehmen wir Pilze – da gibt es Arten mit zehntausenden Geschlechtern.

Und dann wären da noch die ganz wilden Kooperationen.

Ein Beispiel ist ein großer Wurm, der in der Tiefsee in der Nähe von sogenannten schwarzen Rauchern lebt. Dort gibt es kein Licht, vulkanische Aktivität und ganz heißes, hochtoxisches Wasser. Die meisten Lebensformen würden dort sofort sterben. Trotzdem gibt es dort komplexe Ökosysteme. Der Wurm hat sein Gefäßsystem so verändert, dass er den sonst giftigen Schwefelwasserstoff atmen kann. Er besitzt ein Organ, in dem Schwefelbakterien leben, die aus dem Schwefelwasserstoff Energie gewinnen und den Wurm damit versorgen. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich selbst die unwirtlichsten Orte durch Symbiose besiedeln lassen.

Sind kooperative Mechanismen aus der Natur überhaupt übertragbar auf unser menschliches Miteinander?

Ich denke schon. In der Natur und Evolution gibt es zwei fundamentale, universale Prinzipien, die ineinander greifen. “Survival of the fittest” und Wettstreit machen Organismen effizienter. Kooperative Kräfte hingegen sorgen für Neues, für Innovation. Kooperation und Symbiosen sind keine Randerscheinung, sondern das dominierende Prinzip, wenn es um Innovation geht. Kooperation ist kein Soft Skill, sondern Rückgrat. Das lässt sich auf gesellschaftliche Systeme übertragen.

Was könnte man da für Schlüsse ziehen?

Wir sollten uns bewusst machen, dass wir auch nur eine biologische Art sind – und keine Sonderstellung auf diesem Planeten haben. Wenn man die Gattung Homo betrachtet, stellt man fest: Sie war bisher nicht besonders langlebig. Auch unser Wirtschaftssystem mit ständigem Wachstum ist nicht nachhaltig. Das führt irgendwann zum Zusammenbruch. Wie macht die Natur das? Sie setzt auf Kreislaufsysteme und Diversität, um hoch robust gegen äußere Störungen zu bleiben. Was das eine produziert, nutzt das andere weiter. Das könnten wir uns zum Vorbild nehmen.

Organismen wie dem an Schwefel angepassten Tiefseewurm oder hoch robuste Bakterien ist es wahrscheinlich egal, ob wir Menschen uns rechtzeitig an den Klimawandel anpassen können?

Ja, aus evolutionärer Sicht sind wir eine unbedeutende Art. Wir sind der Biosphäre gleichgültig. Wir können sie nicht wirklich zerstören. Wir zerstören vielleicht temporär die Artenvielfalt und vernichten uns selbst. Aber danach kommt etwas anderes. Die Natur hat schon viele Umbrüche überstanden. Wir überschätzen unsere Bedeutung erheblich.