Abitur im Corona-JahrBleibt am Ende eine große Lernlücke übrig?

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Schulstart

Ab Montag dürfen in NRW wieder alle Schüler im Wechselunterricht in die Schule.

Düsseldorf – Glaubt man einem chinesischen Sprichwort, so erfordert Bildung beständige Kraft. Lernen gleiche dem Rudern gegen den Strom, wie es heißt: „Sobald man aufhört, treibt man zurück.“ Die Schülerinnen und Schüler dieses Corona-Jahrs haben mit dieser Gegenströmung angesichts vieler Unterrichtsausfälle und eines mehr als holprigen Digitalstarts in den Distanzunterricht wohl in besonderem Maße zu kämpfen, auch diejenigen, die in wenigen Wochen ihr Abitur absolvieren. Gleichwohl besteht Nordrhein-Westfalens Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) darauf, dass die Abschlüsse 2021 vergleichbar zu denen früherer Jahre sein sollen.

Abiturjahrgang 2021: Die Stimmung ist schlecht

Wie aber ist die Stimmungslage unter den Abiturientinnen und Abiturienten dieses Ausnahmejahrgangs – so kurz vor den Prüfungen? Sophie Halley stellt fest: „Irgendwann hat man in der Regel den Moment erreicht, in dem einem klar ist: Das möchte ich werden. Was brauche ich dafür? Abitur, okay, aber es gibt auch den Numerus Clausus, und das übt Druck aus. Man sieht, wie die Zukunft, ohne dass man das irgendwie beeinflussen könnte, einfach verschwindet.“

Sophie Halley ist 19 Jahre alt, sie ist Mitglied des Vorstands der Landesschülervertretung NRW. Ihr Abitur an der Anne-Frank-Gesamtschule in Viersen hat sie bereits im vergangenen Jahr bestanden, auch damals beherrschte bereits Corona das Land, doch die Vorbereitungszeit auf den Abschluss hat das Virus nur unwesentlich beeinträchtigt; nun studiert Sophie Halley Jura – rein digital, das ist klar. Weil die Schülervertretung aufgrund der Pandemie bislang keinen neuen Vorstand wählen konnte, arbeitet sie dort noch immer mit.

Sprung in eine neue Phase

Corona bestimmt den Alltag junger Menschen massiv, ganz besonders verunsichert es aber diejenigen, die sich auf dem Sprung in eine neue Lebensphase befinden – auch weil von der Abi-Note abhängen könnte, welches Studienfach man wählen kann oder wie zukünftige Arbeitgeber auf das Zeugnis reagieren. „Der Corona-Modus wirkt sich auf Schülerinnen und Schüler unterschiedlich aus, auch das hat Rückwirkungen auf Kompetenzen beziehungsweise Lerneinbußen“, sagt Marko Neumann, stellvertretender Leiter des Leibniz Instituts in Frankfurt. Er ist spezialisiert auf Struktur und Steuerung des Bildungswesens. „Für viele ist die Abiturprüfung auch ohne die Umstände der Pandemie eine besondere psychische Herausforderung, und nun kommt Corona sozusagen noch oben drauf“, so Neumann.

Es werde Schüler geben, die besser damit zurechtkommen, andere würden dies als große Belastung empfinden. Und gerade in der aktuellen Situation und angesichts der sich verschärfenden Dynamik des Infektionsgeschehens könnte die Prüfungssituation selbst eine besondere sein, analysiert Neumann. Dazu gehört, dass die Schülerinnen und Schüler Masken tragen müssen, während sie über den Aufgaben sitzen. Aber da ist auch schlicht und einfach die Angst vor Corona: „Da hat die Politik vor einigen Wochen sicher noch gehofft, dass die Situation eine etwas entspanntere ist, aber es wird Schüler geben, die sich fragen, wie sicher es in der Schule ist.“

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Es gibt diverse Vorschläge, wie man im Hinblick auf die Abiturprüfungen 2021 verfahren sollte. Man könnte einfach eine Durchschnittsnote geben – damit würde vielleicht den Schülerinnen und Schülern Gerechtigkeit widerfahren, die Nachteile beim Digitalunterricht hatten, weil sie nicht rechtzeitig über WLan oder Endgeräte verfügten.

Chance auf freiwillige Nachprüfung gefordert

Man könnte von der zentralen Aufgabenstellung absehen und es den Lehrkräften überlassen, welchen Stoff sie prüfen. Das war ein Wunsch, den unter anderem die Landesschülervertretung formuliert hat, aber: „Diese Forderung mussten wir leider über den Haufen werfen, weil die Ministerin überhaupt nicht darauf eingegangen ist“, so Sophie Halley. „Nun hoffen wir darauf, dass man den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gibt, die Note durch die schriftlichen Prüfungen noch einmal aufzuwerten.“ Auch sollten die Schülerinnen und Schüler die Chance bekommen, freiwillig in eine mündliche Nachprüfung zu gehen.

Und die Möglichkeit einer freiwilligen Wiederholung des Schuljahrs müsse eingeräumt werden. „Allerdings denke ich, dass die meisten sagen: Diese ganze Frustration mache ich nicht noch einmal mit, ich muss jetzt raus.“

Gebauer 1

NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) 

Die Strategie, die Bildungsministerin Gebauer, aber auch andere Bundesländer für das Abitur 2021 verfolgen, lautet: Mehr Aufgaben stellen, um so die Trefferquote für Themen zu erhöhen, auf die sich die Prüflinge gut vorbereitet haben. Und rund zwei Wochen mehr Zeit fürs Lernen.

„Zu sagen, das Abitur 2021 sei vergleichbar mit dem anderer Jahre, ist zunächst einmal eine politische Feststellung, die durchaus nachvollziehbar ist“, sagt Bildungsforscher Neumann. „Doch angesichts der Umstände, unter denen wir nun alle seit einem Jahr leben, wird kaum jemand bestreiten, dass vieles eben nicht vergleichbar ist.“

Weniger Lerngelegenheiten

Klar ist für Neumann, dass es in vielen Bereichen deutlich weniger Lerngelegenheiten gegeben hat. „Das bedeutet, dass wir bei den vielen Abiturientinnen und Abiturienten in diesem Jahr von weniger Kompetenzerwerb auszugehen haben. Was sie faktisch können, und alles andere wäre ein Wunder, wird geringer ausfallen als in anderen Jahren“ – auch, wenn man davon ausgehen müsse, dass Lernrückstände von Schüler zu Schüler je nach individuellen Voraussetzungen und familiärem und schulischem Umfeld sehr unterschiedlich ausfallen könnten.

Neue Ordnung in Preußen

Im Jahr 1834 war in Preußen eine neue Ordnung in Kraft getreten, die eine bestandene Prüfung zur Voraussetzung für ein Hochschulstudium machte. Wie Preußen forderten von da an auch die übrigen Staaten des Deutschen Bundes ein „Zeugnis der wissenschaftlichen Vorbereitung zum Studium“ – damals wurden die Grundlagen dafür geschaffen, dass das Abitur und die dazugehörigen Abschlussprüfungen tief in der DNA des deutschen Schulsystems verwurzelt sind, wie Neumann sagt, „jahrelang wurde über Details zwischen den Ländern gerungen“ – und nun gibt es auf einmal Überlegungen, dies alles etwa durch eine Durchschnittsnote vom Tisch zu wischen. „Wohlgemerkt in einer Extremsituation“, so Neumann. „Was aber wäre, wenn man das einmal zulässt, welche langfristigen Auswirkungen hätte dies für die zukünftigen Diskussionen um die Ausgestaltung des Abiturs? Und auch Schüler könnten es so sehen, dass man ihnen etwas nehmen würde, bekäme man ein Abitur ohne Prüfung.“

Es gibt das böse Wort vom „Corona-Abi“, von einem Abitur mit Preisnachlass sozusagen – eine Abschlussprüfung, die in der weiteren Bildungskarriere wie auf dem Arbeitsmarkt weniger wert sein könnte als die früherer Jahre. „Es ist nicht auszuschließen, dass diesem Abiturjahrgang der Ruf des ‚Corona-Abiturs‘ anhaftet“, sagt Marko Neumann. Seine Hoffnung ist aber, dass es im Gegenteil viel Verständnis und Unterstützung gebe – für Schülerinnen und Schüler eine Situation herbeizuführen, aus der ihnen ein Nachteil erwächst, wäre fatal, von Universitäten wie von Ausbildungsbetrieben. „Das erwarte ich aber auch nicht. Ich erwarte von allen Beteiligten eine Haltung, das Beste draus zu machen.“

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