Arbeitssklave KindZiegeln pressen bis zur völligen Erschöpfung

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Pauls1

Rahuls Familie stammt aus dem armen, landwirtschaftlich geprägten Bundesstaat Bihar im Nordwesten Indiens an der Grenze zu Nepal. Irgendwann hat der Vater Geld von einem Verleiher bekommen und damit sich und seine Familie in eine Knechtschaft begeben, die Züge von Sklaverei trägt.

  • In den etwa 400 Ziegeleien am Rande Neu-Delhis schuften Zehntausende Kinder unter unmenschlichen Bedingungen und bis zur völligen Erschöpfung.
  • Die meisten Arbeiter sind „Musahar“, was übersetzt Rattenfänger oder -esser heißt.
  • Einer von ihnen: der zehnjährige Rahul. Irgendwann hat der Vater Geld von einem Verleiher bekommen und damit sich und seine Familie in eine Knechtschaft begeben, die Züge von Sklaverei trägt.

Wer Rahul beim Arbeiten zusieht, wähnt sich in einer anderen Zeit, der Frühphase der industriellen Revolution vielleicht. Der Zehnjährige funktioniert wie eine Ziegelpresse – eine aus Fleisch und Blut. Als erstes knetet er den Lehm. Er stäubt ihn leicht ein, dann presst er ihn in eine Form. Mit seinem schmächtigen Körper drückt er kurz auf die Masse, bevor er den Rohling aus dem Holzrahmen nimmt und ihn akkurat zu den Hunderten anderer Lehmziegel legt, die er und sein Vater heute schon geformt haben.

Wortlos und mit den immer gleichen Handbewegungen, wieder und wieder, ohne auch nur einmal aufzuschauen. Irgendwann kommen Rahuls Mutter und seine Schwestern. Sie tragen die Ziegel fort, schichten sie zu geometrisch angeordneten Wänden auf. Darin sind Öffnungen gelassen worden, die wie Ornamente wirken, aber wie alles hier nur einen Zweck erfüllen. Die Öffnungen sollen den Lehm schneller trocknen lassen, bis er schließlich in einem altertümlichen Ofen zum harten Ziegelstein gebrannt wird, der dazu dient, den riesigen Bedarf Neu-Delhis an Baumaterial zu stillen. Etwa sieben Euro verdienen Rahul und seiner Familie mit ihrer Schufterei.

Die Ziegel-Region liegt nur wenige Kilometer westlich der Elf-Millionen-Metropole mit ihren modernen Flughäfen, Hightech-Metro-Linien und Industrie-Konglomeraten. Doch wer sie besucht, glaubt in einem anderen Land zu sein. Wo die modernen Hochhaussiedlungen von Neu-Delhis Stadtteil Dwarka enden, beginnt die Reise in das arme Indien, von dem viele sagen, es sei das wahre Indien.

Altertümliche Ziegelschlote, die dunklen Rauch ausstoßen, scheinen überall aus dem Boden zu wachsen. Sie stehen im Kontrast zu den gewaltigen Hochspannungsmasten der Neuzeit, als hätte man Bilder aus verschiedenen Jahrhunderten übereinander geschoben.

Allein in den etwa 400 Ziegeleien dieser Region arbeiten Zehntausende Kinder. In den rund 100.000 Betrieben, von denen die Organisation „Anti-Slavery“ (Anti-Sklaverei) in ganz Indien ausgeht, sind 22 Millionen Ziegelarbeiter beschäftigt. Millionen davon sind minderjährig. In der Regel werden ganze Familien von Wanderarbeitern eingesetzt, weil sie abhängiger sind. So ist es auch mit Rahuls Familie, die aus dem armen, landwirtschaftlich geprägten Bundesstaat Bihar im Nordwesten Indiens an der Grenze zu Nepal stammt. Irgendwann hat der Vater Geld von einem Verleiher bekommen und damit sich und seine Familie in eine Knechtschaft begeben, die Züge von Sklaverei trägt.

Über Jahre und Jahrzehnte in Abhängigkeit

Der überwiegende Teil der Arbeiter in den Ziegeleien wird über Jahre und Jahrzehnte in Abhängigkeit gehalten, wie die Anti-Sklaverei-Bewegung herausgefunden hat. Die Arbeiterfamilien entstammen sozialen Randgruppen, sind meist Analphabeten und arbeiten immer weiter, ohne dass ihre Schulden geringer würden. Fern der Heimat eingesetzt, sind sie noch abhängiger. Jeder kann alles mit ihnen machen. Sie wissen nichts von ihren Rechten, sagen Betreuer. Die harte Arbeit, Mangelernährung und Erschöpfung fordern ihren Preis – nur durchschnittlich 45 bis 50 Jahre alt werden die Erwachsenen.

Wäre Rahuls Ziegelei eine Sträflingskolonie, sie würde als hart gelten. Etwa 100 Familien hausen in den winzigen, windschiefen Ziegelhäuschen, die nur dazu taugen, den Regen von den Menschen und dem Brennstoff – getrocknete Fladen aus Kuhdung – fernzuhalten. Elektrizität gibt es täglich nur zwischen 18 und 19 Uhr. Das Grundwasser ist salzhaltig, das Leben für alle, ob Kinder oder Erwachsene, trostlos und monoton. Es besteht aus arbeiten, etwas Reis mit Linsen essen, schlafen und wieder arbeiten. Kinder-Spielzeug sieht man nicht, dafür aber Lehmstaub. Farbe ins Leben bringen allein die bunten Gewänder der Frauen.

Die Familien in Rahuls Betrieb sind ausnahmslos „Musahar“, was übersetzt Rattenfänger oder -esser heißt. Offiziell gilt das hinduistische Kastensystem in Indien zwar nicht mehr. Doch weil etwa 80 Prozent der Inder zu der Religionsgemeinschaft gehören, hat es im Alltag nach wie vor prägende Wirkung, vor allem auf dem Land. Die Musahar stehen im Kastenwesen an der niedrigsten Stufe, noch unter den Unberührbaren.

Bildung und Ausbildung

Sie sind Tagelöhner, Feldarbeiter, hausen in eigenen Siedlungen am Rand der Dörfer, meist unter menschenunwürdigen Bedingungen ohne Strom und Wasser, und leben buchstäblich von dem, was die Gesellschaft an Abfall hinter sich lässt. Im Alltag werden die Musahar verachtet, ihre Kinder in den staatlichen Schulen so stark ausgegrenzt, bis viele entmutigt den Schulbesuch abbrechen. Trotz aller Förderungsprogramme der Regierung kann auch heute nur jeder zehnte Musahar ein wenig lesen und schreiben.

Wie man dem Schicksal entgehen kann? Nur durch Bildung und Ausbildung, sagt Pfarrer Mathew Kalathunkal von den Salesianern Don Boscos. Seit 2007 betreibt der Orden, der sich um Kinder und Jugendliche kümmert, in der Nähe von Neu-Delhi das Passor Dorf – ein Jugendzentrum, in dem 180 Kinder aus acht umliegenden Ziegel-Fabriken zwischen 9.30 und 14.30 Uhr lesen, schreiben und rechnen lernen, mit einfachen Spielgeräten wie einem Karussell hantieren und schließlich ein Mittagessen bekommen. Das ist besonders wichtig. Die Eltern sparen Verpflegungsgeld und gleichen damit die Verdienstausfälle des Kindes aus. Elf Erwachsene betreuen die Kinder. Die Gesetze Indiens verbieten Kinderarbeit, sagt der Geistliche. Aber wie die Wirklichkeit aussehe, sehe man ja selber.

Müsste der Staat hier nicht hart durchgreifen und die Kinderarbeit konsequent ahnden? Das, glauben die Salesianer, würde auf jeden Fall zu noch mehr Armut und Chaos führen. Das Einkommen der Kinder ginge ihren Familien verloren. Man müsse deshalb die Verhältnisse behutsam ändern. Denn das ist zugleich die andere Furcht: dass Maschinen die Handarbeit der Menschen ersetzen. Vor allem Bildung sei der Schlüssel zum Wandel, auch im Kampf gegen die Schuldsklaverei. Die Salesianer wollen mit ihrem Jugendzentrum zeigen, dass es auch ein anderes Leben gebe.

Besonders stolz ist Father Mathew darauf, dass 51 der vom Orden betreuten Kinder in dieser Saison in ihrer Heimatprovinz Bihar geblieben sind, um dort in die Schule zu gehen. Er plant, künftig Vorschullehrer in die Arbeitersiedlungen zu schicken. Bislang werde das Engagement seines Ordens in den Ziegeleien von den Besitzern geduldet, sagt Father Mathew nüchtern.

Eigene Förderprogramme für Musahar

In Bihar, dem Armenhaus Indiens, ist das Klima rauer. Dort leben die meisten der etwa drei Millionen Musahar. In die Ziegelfabriken dort geht man als Fremder besser nicht. Die Betreiber seien mächtig, sagt ein kirchlicher Sozialarbeiter. „Die bringen jeden zum Schweigen.“ Auch hier schuften Menschen in Knechtschaft, arbeiten vergeblich ihre Schulden ab. Auch hier werden sie aus anderen Bundesstaaten wie dem benachbarten Jharkhand herbei gekarrt, um so die Abhängigkeit zu vergrößern.

Für die Musahar sind eigene Förderprogramme aufgelegt worden, um ihnen zu Bildung oder einem Stück Land zu verhelfen, sogar eine Arbeitslosenunterstützung existiere, sagt Pfarrer Dominic Amalan aus Buxar, einer Stadt in Bihar. Aber all das komme nicht an, zumindest nicht bei denen, die davon profitieren sollen. Bildung sei die einzige Chance für die Musahar, sich zu emanzipieren.

Nicht weit von Buxar liegt Dhansoi, ein kleiner Flecken mit wenigen hundert Bewohnern. In einem Feuchtgebiet findet man die Siedlung der Musahar. Wer zu ihnen geht, muss durch Wasser und Schlamm waten. Auch hier kümmern sich die Salesianer Don Boscos um die Menschen. Es gibt Sozialarbeiter und eine kleine Vorschule, um Eltern und Kinder vom Wert der Bildung zu überzeugen.

Giftschlange, Schwein, Rattenesserin

Die Gespräche drehen sich um die immer gleichen Themen. In dem abgelegenen Weiler gibt es keine Elektrizität, keine Latrinen. Die Menschen hier haben keine Sicherheit, dauerhaft bleiben zu können. Die Kinder klagen, sie würden in der staatlichen Schule schlecht behandelt, verprügelt und beschimpft: „Ihr stinkt!“, sagen die Mitschüler.

„Immerhin kommt jemand zu uns und geht mit uns sogar auf die Ämter“, sagt Kunti Devi, die eine Art Vorsteherin der Siedlung ist. Sie spricht von den Sozialarbeitern des Ordens. Die 50-Jährige ist eine selbstbewusste Frau. Nein, sie könne nicht lesen und schreiben, sagt sie. Deshalb brauche sie unterstützende Begleitung. Nein, eine Ratte habe sie noch nicht gegessen, sagt sie. Wie sie dann zu der Bezeichnung Musahar steht? Man habe ihr schon viele hässliche Namen gegeben, sagt die Frau. Giftschlange oder Schwein zum Beispiel. Und eben auch „Rattenesserin“. Aber das störe sie nicht mehr. „Heute wissen wir, dass wir Menschen sind. Und wir möchten leben wie andere Menschen auch.“

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