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Bericht über Waldorfschule„Hier hat jeder mal eine Axt in der Hand“

Lesezeit 5 Minuten

Die Stufe 8 macht Theater: Klassenspiele gehören für Waldorfschüler fest zum Lernprogramm.

Erftstadt – Schüler tanzen ihre Namen, kriegen keine Noten, bleiben nicht sitzen und lernen lieber Nähen, Stricken und Basteln als Mathe, Englisch und Chemie. Das sind bei nicht wenigen Außenstehenden die gängigen Klischees, wenn sie an Waldorfschulen denken. Von innen haben allerdings die wenigsten schon mal eine solche Schule gesehen. Ich habe mich deshalb einfach einmal in der Freien Waldorfschule in Erftstadt umgesehen und mir aus erster Hand erklären lassen, wie diese etwas andere Bildungseinrichtung wirklich funktioniert.

Zeit für mich genommen haben sich Jan und Saskia, beide 16 Jahre alt, aus der Klasse 10 sowie Christoph (13) und Leonie (14) aus der Klasse 8, außerdem Lehrer Alfons Thelen-Brücher, der Gartenbau unterrichtet, Förderkurse gibt und für die Öffentlichkeitsarbeit der Schule zuständig ist.

Fester KIassenverband

Anders als an staatlichen Schulen bestehen die Jahrgänge immer nur aus einer einzigen Klasse mit 33 bis 39 Schülerinnen und Schülern. Sie können ihre gesamte Lernzeit vom ersten bis maximal zum 13. Schuljahr in der Waldorfschule verbringen, und zwar weitgehend gemeinsam in einem festen Klassenverband, ohne dass schwächere Jugendliche aussortiert werden.

Der Stundenplan sieht vor, dass der Klassenlehrer in den ersten acht Schuljahren jeden Tag zwei Stunden Hauptunterricht in Deutsch, Mathematik, den naturwissenschaftlichen Fächern, Heimatkunde und Geschichte gibt – und zwar epochenweise. „Eine Epoche dauert drei bis vier Wochen. In dieser Zeit haben wir morgens in den ersten beiden Stunden beispielsweise immer Deutsch. In der nächsten Epoche kommt dann ein anderes Fach dran“, erklärt Christoph, „dieser Blockunterricht soll eine besonders intensive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Fach ermöglichen.“ Russisch, Englisch und die künstlerischen, kreativen und handwerklichen Fächer wie Handarbeit, Werken, Gartenbau oder Eurythmie werden anschließend in kleineren Gruppen unterrichtet.

Die Sache mit dem Namentanzen kommt vom Fach Eurythmie, das zwölf Jahre fest lang zum Waldorf-Programm gehört. Bei dieser Form der Bewegungskunst geht es darum, Musikstücke, literarische Texte und auch die eigene innere Gefühlswelt hautnah zu erspüren und ihnen in tänzerischen Choreografien nach bestimmten Regeln Ausdruck zu verleihen. „Eurythmie fördert Geschicklichkeit, Konzentration, Orientierung im Raum, Koordination, Kreativität, Ausdrucksfähigkeit, soziale Sensibilität und – sie macht Spaß“, heißt es auf der Homepage der Schule. Gegen Eurythmie gebe es Vorurteile, weiß Saskia. „Aber wer sich ein bisschen intensiver damit befasst, merkt schnell, dass das eine spannende Sache ist.“

Die Eurythmie passt zum ganzheitlichen Konzept der Waldorf-Pädagogik, die nicht nur Fachwissen vermitteln, sondern gleichermaßen Kopf, Herz, Hand und nicht zuletzt auch die soziale Kompetenz fördern möchte. Sprachen, Mathe, Natur- und Geisteswissenschaften dürfen da nicht fehlen, aber dem künstlerisch-handwerklichen Bereich wird deutlich mehr Raum als an herkömmlichen Schulen zugestanden.

Projekte und Praktika

So werden im Werkunterricht zum Beispiel Schalen aus Kupfer hergestellt beim Kupfertreiben. „Dabei entsteht aus einer Kupferplatte mit präzisen Hammerschlägen eine Schale“, erklärt Saskia. Später werden Grundlagen im Schreinern, Steinhauen und Plastizieren erlernt. Mit dem Beginn der Oberstufe in Klasse 9 fällt der Klassenlehrer weg, doch die Struktur des Stundenplans bleibt gleich, nur dass die Klassen jetzt von wechselnden Fachlehrern unterrichtet werden und es für die Klassenangelegenheiten zwei Betreuungslehrer gibt. Schon ab Stufe 7 gehören Projekte oder Praktika zum festen Angebot. Beim Forstpraktikum beispielsweise geht die gesamte Klasse für eine Woche in den Wald. „Wir haben Holz gehackt, Zäune und Staudämme gebaut. Jeder hatte in der Zeit mal eine Axt in der Hand“, erzählt Leonie.

Im Handarbeitsunterricht näht man Mäppchen für die zukünftigen Erstklässler. Die Jugendlichen aus der achten Klasse betreuen die i-Dötzchen zudem als persönliche Paten. Wichtig sind für die Achtklässler auch die Projektarbeiten. „Ein Klassiker ist es hier, ein Bett selbst zu bauen“, berichtet Jan, „dazu müssen dann auch eine schriftliche Dokumentation und ein Vortrag erarbeitet werden.“ Doch damit nicht genug: Neben den Projekten in Einzelarbeit wird in der Klasse 8 auch noch ein Klassenspiel einstudiert. „Wir haben uns dieses Jahr für das Drama »Frühlingsgefühle« von Gunther Jacobiak entschieden“, erzählt Leonie. Sie freut sich bereits auf die Stufe 9, in der ein drei- bis vierwöchiges Landwirtschaftspraktikum auf einem Öko-Bauernhof auf dem Stundenplan steht. All diese und viele weitere Aktivitäten werden in einem persönlichen Portfolio über die gesamte Schulzeit hinweg dokumentiert.

In der Oberstufe folgt unter anderem noch die Aufführung eines Fremdsprachenmusicals. Die aktuelle Stufe 10 hat sich für das Psychodrama „Jeckyll & Hyde“ entschieden und wird es kurz vor den Sommerferien aufführen.

Umfangreiche Facharbeit

In der Stufe 11 folgt ein mehrwöchiges Praktikum in einer sozialen Einrichtung, und in der letzten gemeinsamen Stufe 12 steht zum einen die auch an staatlichen Schulen übliche Facharbeit an, die an den Waldorfschulen aber viel umfangreicher ist. Eine große Sache ist auch das Abschlussklassenspiel. Dieses Jahr haben die Zwölfer an einem großen Theaterprojekt teilgenommen, den zweiten Akt von „Faust II“ inszeniert und mit anderen Gruppen in München den kompletten „Faust“ aufgeführt.

In der Stufe 13 bleiben dann nur noch die angehenden Abiturienten übrig. Zeit für Künstlerisches ist dann kaum noch da. „Aber wir hatten sogar mal einen Abi-Jahrgang, der darum gebeten hat, freiwillig weiter Eurythmie machen zu dürfen“, erinnert sich Alfons Thelen-Brücher. So schlimm scheint das Namentanzen also wirklich nicht zu sein.

Insgesamt versteht sich die Waldorfschule als Gesamtschule, in der es einerseits einen klar strukturierten Lehrplan ohne große Wahlmöglichkeiten gibt. Auf der anderen Seite bietet die Schule ihren Jugendlichen aber enorm viele Chancen, ihren Horizont zu erweitern, Kreativität zu entwickeln, fürs Leben zu lernen und sich selbst zu entdecken. Und am Ende können die Waldorfschüler dann auf eine bewegte Schulzeit zurückblicken mit ganz vielen praktischen Erfahrungen, die an den herkömmlichen Schulen manchmal vielleicht zu kurz kommen.

www.waldorfschule-erftstadt.de