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ReportageDer höchste Punkt Hollands

Lesezeit 8 Minuten

Kunstschnee im Grünen – Die Niederländer schnallen die Ski in Winterberg trotzdem an.

„Vorsicht Dachlawinen!“ Das Schild an einem Haus auf der Einkaufsstraße Am Waltenberg nötigt den beiden Paaren, die eines der vielen Cafés ansteuern, angesichts der viel zu milden Temperaturen zu Jahresanfang nur ein müdes Lächeln ab. Jan Willem und Marie, Timo und Linda bestellen beinahe trotzig Eierlikör-Punsch und Glühwein mit Schuss, als müssten sie sich nach einem eisigen Januartag auf Brettern erstmal ordentlich aufwärmen. „Winter light, na und?“, sagt Jan Willem achselzuckend, wie seine Freunde angehender Arzt aus Leiden. Sie hatten morgens die Nummer des Schneetelefons gewählt und sich trotz der Prognose („leider vom Weihnachtstauwetter voll erwischt“) auf den Weg nach Winterberg gemacht. Die vier lassen sich die Stimmung nicht vermiesen, obwohl kein Kälteeinbruch in Sicht ist. „Ohne die Holländer“, weiß die Kellnerin, „könnten wir einpacken. Die kommen auch, wenn wir keinen halben Meter Pulverschnee haben.“

Ohne die Holländer könnten wir einpacken.

Über Weihnachten bis in die zweite Januarwoche ist Winterberg wieder fest in der Hand niederländischer Ski-Enthusiasten. Die Gegend um den Kahlen Asten, „het Land van de 1000 Berge“, ist die Lieblings-Region der Flachland-Tiroler – alle Jahre wieder. „Winterberg ist der höchste Punkt Hollands“, witzelt der Gastronom Harry van Stijn aus Arnhem, der das Brauhaus „Neue Mitte“ betreibt. Zwar hat die Wirtschaftskrise, die das Nachbarland relativ spät, dafür aber mit voller Wucht erwischt hat, zu merklichen Umsatzrückgängen geführt. „Immer noch kommen aber 40 Prozent unserer Gäste aus den Niederlanden“, sagt Michael Beckmann, Geschäftsführer Winterberg Touristik und Wirtschaft.

Aprés Ski statt Kur

Schon diese Bezeichnung sagt fast alles über die Bedeutung des Fremdenverkehrs für die Kleinstadt im Hochsauerland. Früher machte diesen Job der Kurdirektor, Doch die Zeiten, da Winterberg von seinen Kurgästen lebte, sind vorbei. In den zehn Jahren, seit Beckmann für das Marketing von Deutschlands größter zusammenhängender Skiregion nördlich der Alpen verantwortlich zeichnet, ist viel Geld in die Infrastruktur gesteckt worden – auch in moderne Sesselbahnen.Winterberg (offizieller Slogan: „Komm rauf zu uns“) könne mit Bedingungen punkten, die so kein anderes deutsches Mittelgebirge zu bieten habe. Derzeit sind nur zwei oder drei Lifte in Betrieb, 28 könnten es sein. Mehr als 300 Schneekanonen warten, vollautomatisch gesteuert, auf ihren Einsatz.

Speziell in diesen Tagen ist das Skigebiet Poppenberg ein Geheimtipp, der sich längst bis Maastricht und Venlo, Amsterdam und Groningen herumgesprochen hat. Der Parkplatz ist jetzt am frühen Nachmittag gut belegt, und die gelben Kennzeichen sind eindeutig in der Mehrheit. Kluge Strategen haben einige kalte Abende und Nächte vor Weihnachten genutzt, um die Hänge, die fast immer im Schatten liegen, von einer nassen grünen Wiese in eine anständige weiße Piste zu verwandeln. „Unser Chef“, verrät Techniker Joachim Piepke, „hat das Wasser kräftig runtergekühlt, und dadurch konnten wir mehr schneien als andere.“

Beinahe Alpin

An der Talstation herrscht diszipliniertes Gedränge. In der Schlange treffen wir Annemie Wilders aus Eindhoven. „Schöner kann es gar nicht sein“, findet die Kindergärtnerin. Ihr Mann Ewoud, Elektronik-Ingenieur bei Philips, schwärmt mit einem Becher dampfendem Jagertee in der Hand, alles sei prima organisiert. Und wenn man in Holland lebe, kämen einem 750 Meter Seehöhe schon beinahe alpin vor. Ihre Ausrüstung haben die beiden von zu Hause aus online reservieren lassen. Nur kurz den Ausweis zeigen, dann gehören das Paar Carving-Ski und die Schuhe für drei Tage ihnen. Leihbedingungen und eine Kurzanleitung liegen ganz selbstverständlich auf Niederländisch aus.

Für Stammbesucher ist dieser Service Standard, ebenso die zweisprachigen Speisekarten, die es fast überall gibt. Mit soviel „Verwöhnung“, wie sie es nennt, hätten Susanne Laumen und ihre Begleiterin Femke Blankert (beide Medizinstudentinnen aus Nijmegen), nicht gerechnet. „Wir merken manchmal gar nicht, dass wir in Deutschland sind“, findet Physiotherapeut Koen Tullers. Die Kneipen, die Cocktailbar, sogar die „Alm-Hütte“ mitten im Ort kämen ihm vor „wie Klein-Holland“. Die drei finden es lustig, dass sich Sauerländer Gastronomen komplett auf die Essgewohnheiten der Gäste einstellen. Überall gibt es die Frikandel, die niederländische Frikadelle, aus gemischtem Schweine- und Rinderhack und mit reichlich Zwiebeln, Ketchup und Mayonnaise serviert. „Wir bestellen uns hier aber weder Hering noch Poffertjes“, sagt Tullers und klopft Schneematsch von den Skistiefeln ab.

Wir merken manchmal gar nicht, dass wir in Deutschland sind.

Sprachkurse sind ausgebucht

Er ist überrascht, wie „easy“ es sich auf Kunstschnee fahren lässt. 30 Zentimeter seien völlig okay, wo die Decke dünner wird, gerate der Hang ein wenig zur Eisbahn. „Absolut“, bestätigt grinsend der Mann hinter dem Tresen vom „Ski-Verhuur“, dem Skiverleih. „Kunstschnee ist grobkörniger. Keine Ahnung, was das auf Holländisch heißt.“

Weil die Geschäftswelt weiß, was sie an den Holländern hat und dass sie – auch wenn sie im Urlaub nicht mehr ganz so spendabel sind wie früher – weiter einen „bedeutenden Wirtschaftsfaktor darstellen“ (Touristik-Chef Beckmann), werden die Gäste aus dem Nachbarland gehätschelt. Die Sprachkurse der Volkshochschule sind regelmäßig ausgebucht. „Unsere Klienten schätzen es, wenn man nicht nur ein paar Floskeln wie „bedankt“ und „tot ziens“ beherrscht“, berichtet Frank Kuechler, Geschäftsführer von Winterberg Immobilien. Auch er selbst hat sich, als er vor sechs Jahren von Düsseldorf ins Hochsauerland wechselte, Grundkenntnisse in Niederländisch angeeignet.

Unsere Klienten schätzen es, wenn man nicht nur ein paar Floskeln wie „bedankt“ und "tot ziens" beherrscht.

Vor der Krise waren 40 Prozent seiner Kunden Niederländer. Vor allem Mittelständler, junge Familien mit Kindern, kauften Ferienwohnungen und machten Winterberg zu ihrem Zweitwohnsitz. Ihm seien sie, egal ob als Käufer oder als Mieter, fast lieber als Deutsche. „Sie wissen genau, was sie sich leisten können und versuchen nach Vertragsabschluss nicht, einen Rabatt herauszuschlagen.“

„Eine glückliche Symbiose“

Winterberg und die Niederländer – das sei einfach „eine glückliche Symbiose“, philosophiert der Makler in seinem „Kantoor“, seinem schicken Büro in der Hauptgeschäftsstraße, die er einmal sogar „Boulevard“ nennt. Auf der Düsseldorfer Kö habe er in der Vorweihnachtszeit hässliche Schilder („Holländer unerwünscht“) gesehen. In Winterberg wäre so eine „geschmacklose Entgleisung“ vollkommen unvorstellbar, meint Kuechler. Wenn oben am Westhang an der „Postwiese“ richtig Hochbetrieb herrscht, erzählt der Mann am Kartenhäuschen für den Lift, könne man auch nicht so nette Bemerkungen über die „Käsköppe“ hören. Die nähmen alles in Beschlag und hätten vom Skifahren eh keine Ahnung, „weil die gar nicht wissen, was Berge sind“.

Die herrliche Natur, die Berge, und alles fast wie zu Hause.

Stef und Agnes Willems sind heute mal vom Poppenberg herübergekommen. Der pensionierte Installateur hat erst mit 57 die Liebe zum Snowboarden entdeckt, und seine Kinder und Enkel finden seine Begeisterung für die Trendsportart cool. Seit er und seine Frau ein 65 Quadratmeter großes Appartment in Winterberg besitzen, pendeln sie öfter von Noordwijkerhout an der Küste ins Sauerland. „Die herrliche Natur, die Berge, und alles fast wie zu Hause.“ Als „Klein St. Moritz“ preist Winterberg sich in einem Schaufenster selbst an. Jetzt genießen die Willems ein paar Sonnenstrahlen vor der „Après-Hütte“ mit dem sinnigen Namen „Lawine“. Sie trinken Bratapfel-Punsch, später werden sie sich auf dem „Wintermarkt“ eine Portion Oliebollen gönnen. Apfelkrapfen, die in Holland zu Weihnachten gehören wie hier Stollen und Spekulatius. Nirgendwo in Winterberg geht es „holländischer“ zu als im Ferienhotel „Der Brabander“ am Ortseingang. Das durch An- und Umbauten immer wieder vergrößerte 400-Betten-Haus ist eine rein niederländische Enklave. Vor 27 Jahren hatte Inhaber Rob Meurs die clevere Idee, Sauerland-Touristen aus der Heimat 670 Meter über dem Meeresspiegel ein komplettes Zuhause-Gefühl zu vermitteln. Man bleibt bewusst unter sich – bis vor kurzem wurden deutsche Gäste eher widerwillig beherbergt – und lässt sich heimische Spezialitäten servieren. Prospekte, Speisekarte, Rahmenprogramm – alles auf niederländisch.

Die ersten 15 TV-Programme, die die Fernbedienung im Hotelzimmer gespeichert hat, sind keine deutschen Sender. Ein Pannenkoekenhuis mit 80 Pfannkuchen-Sorten gehört auch zur Anlage. Selbstredend werden Wedeln und andere Wintersporttechniken in der hauseigenen Skischule durch muttersprachliche Skilehrer vermittelt.

Niederländische Gemütlichkeit

Der Kamin verbreitet wohlige Wärme. Die tut gut nach der Fackelwanderung mit Gratis-Glühwein zum Abschluss, an der fast alle ausschließlich niederländischen Hausgäste teilgenommen haben. „Wir freuen uns natürlich über Deutsche“, sagt Junior Danny Meurs, vor 24 Jahren in Winterberg geboren. „Aber unsere Philosophie ist nun mal niederländische Gemütlichkeit“, was gleichbedeutend sei mit Geselligkeit.

Da haben 400 Leute Party gemacht wie am Ballermann.

Weihnachten gehe es eher lebhaft als besinnlich zu. Ahnungslose Urlauber aus dem Ruhrgebiet oder dem Rheinland kämen sich dann vielleicht wie Exoten vor. Wenn es Nacht wird und die Fluchtlichtanlagen an den Hängen ausgeschaltet werden, mutiert Danny Meurs zum DJ. Eine Gruppe Rotterdamer Snowboard-Freaks will bei ein paar Cocktails in der „Skihütte“ abhängen, die mal eine Tankstelle war. „Silvester“, schwärmt der Junior und dreht die Regler am Mischpult auf, „ist die Post abgegangen. Da haben 400 Leute Party gemacht wie am Ballermann.“ In der niederländischen Variante natürlich.

Etwa 40 Prozent der rund 1,2 Millionen Übernachtungen in Winterberg entfielen 2013 auf Gäste aus den Niederlanden. Die meisten kommen über den Jahreswechsel und in den „Krokusferien“ im Februar. Die Hotels und Pensionen in der Kleinstadt im Hochsauerland bieten 8000 Betten an. Auch Belgier und Dänen, früher auf Alpen, Schwarzwald oder Harz abonniert, entdecken zunehmend die Skiregion um den 841 Meter hohen Kahlen Asten.

Kurzurlaube werden am häufigsten gebucht. Inzwischen entwickelt sich Winterberg auch zum Sommerziel für Wanderer, Mountainbiker und Wellness-Fans. 2015 ist Winterberg Gastgeber der Bob- und Skeleton-WM , gestern endete der Herren-Weltcup.