Ein Mann mit GrenzerfahrungenDaniel Harding mit schwedischem Orchester
Er hat schon einiges mitgemacht in seiner Karriere als Dirigent. Als Jugendlicher besuchte Daniel Harding die Chetham's School of Music, ein spezielles Musikgymnasium in Manchester. Doch eines Tages sollte sich auf einen Schlag alles verändern. Er schrieb einen Brief an Sir Simon Rattle, damals Chefdirigent des City of Birmingham Symphony Orchestra, in dem er um eine künstlerische Einschätzung bat:
Dem Brief beigefügt war der Mitschnitt einer Einstudierung von Schönbergs „Pierrot Lunaire“, den Harding mit einigen Mitschülern in der Freizeit erarbeitet hatte. Bis dahin eigentlich Trompeter, hatte er das Dirigat der Gruppe übernommen. Rattle ging tatsächlich auf das Anliegen ein, vielmehr lud er Harding sogar ein, für einige Zeit bei ihm zu assistieren.
Chefposten mit nur 22 Jahren
Als dann ein Angebot von Claudio Abbado kam, ihm bei den Berliner Philharmonikern zu assistieren, zog es Harding nach Berlin. Und wie es der Zufall wollte, fiel Abbado eines Tages aus, und der junge Assistent nutzte seine Chance. Bemerkenswert ist daran nicht nur, dass der Einspringer gerade einmal 20 Jahre alt war, sondern auch die Tatsache, dass er als Quereinsteiger bis dato eine Musikhochschule höchstens von außen gesehen hatte!
1997 dann erhielt Harding mit 22 Jahren seinen ersten Chefposten: beim Sinfonieorchester Trondheim. Von 1999 bis 2003 leitete er die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, seitdem fungiert er als Musikdirektor des Mahler Chamber Orchestra, zu dessen Ehrendirigent auf Lebenszeit er mittlerweile avanciert ist. Seit sieben Jahren ist er nun Musikdirektor beim Swedish Radio Symphony Orchestra. Doch der steile und vor allem frühe Aufstieg brachte auch seine Schattenseiten mit sich.
Eine steile Karriere, die Kraft kostete
Nachdem Harding im zarten Alter von 17 quasi über Nacht zum Assistenten einer der weltweit angesehensten Dirigenten befördert worden war, erlebte er nur 13 Jahre später den bisherigen Tiefpunkt seines Lebens. Nach einem Konzert mit den Wiener Philharmonikern im Mozart-Jahr 2006 zerriss ihn die österreichische Presse in der Luft. Was war geschehen? Harding befand sich in einer Phase, in der er sich selbst derart unter Druck gesetzt hatte, dass es ihn sogar seine Ehe kostete.
Erst Jahre später erkannte er, dass er körperlich nur sehr unzureichend auszudrücken vermochte, was er an musikalischen Ideen im Kopf hatte. Doch zog er sich am eigenen Schopfe aus dieser Krise, indem er sich hinterfragte und konstruktive Kritik vertrauter Menschen und Mentoren annahm. Harding ließ sich über Monate beim Dirigieren filmen und analysierte jede einzelne Bewegung. Das Ergebnis war so gravierend, dass ihn Orchestermusiker sogar darauf ansprachen.
Von Leben und Tod erfüllt
Seit 15 Jahren dirigiert er regelmäßig in Japan, unter anderem das New Japan Philharmonic Orchestra. Dort widerfuhr ihm ein weiteres, im wahrsten Sinne des Wortes erschütterndes Erlebnis. Er saß gerade im Taxi zur Generalprobe, als 2011 in Tokio die Erde bebte. Bis zuletzt war nicht klar, ob das Konzert stattfinden konnte, geschweige denn überhaupt jemand erscheinen würde. Die Stadt war vollkommen blockiert, es fuhr kein Zug und keine U-Bahn.
15 Minuten vor Konzertbeginn war noch niemand da. Am Ende waren es immerhin 50 Zuhörer (von 1800 verkauften Karten)! Doch die trotz oder gerade wegen der Ereignisse hochkonzentrierte Atmosphäre im Saal, während Mahlers von Leben und Tod erfüllte 5. Sinfonie erklang, wird Harding, den Musikern und nicht zuletzt den japanischen Besuchern wohl für immer im Gedächtnis eingebrannt bleiben.
In Japan hat er auch die Konzentration und Geduld zu schätzen gelernt, mit der die Menschen etwas aufnehmen und begreifen wollen. Nach 20 Jahren persönlicher Hingabe und Berufserfahrung hat er gelernt, die Dinge geschehen zu lassen und mit weniger trotzdem alles zu machen – ein Prozess, der bis in die späten 50er andauert, ist er überzeugt. Und da er kein Fußballer geworden ist – etwa bei seinem Lieblingsclub Manchester United – ist seine Karriere noch jung.