Interview mit Bildungsforscher„Es reicht nicht, Tablets an Schulen zu verteilen“

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Schülerinnen arbeiten mit einem Tablet.

Kinder müssen lernen: Wo sind die Vorteile der Digitalisierung, wie kann man sie nutzen, was sollte man besser lassen?

Der Psychologe und Bildungsforscher Gerd Gigerenzer erzählt uns im Interview, was er von der digitalen Offensive an Schulen hält und wie es aus seiner Sicht um den Datenschutz bestellt ist.

Herr Gigerenzer, über Sie ist wahlweise zu lesen, Sie seien Zukunfts-, Bildungs- oder Risikoforscher. Was sind Sie denn nun? Oder: Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen?

Gerd Gigerenzer: Ich bin schlicht Psychologe und interessiere mich dafür, wie Menschen mit Ungewissheit und Risiken umgehen. Und das ist ein ganz wesentlicher Teil von Bildung. Wenn Sie nicht wissen, wie man mit Risiken umgeht, dann haben Sie Probleme im Gesundheitsbereich, dann haben Sie Probleme, Ihr Geld anzulegen, dann haben Sie Probleme in der digitalen Welt zurechtzukommen.

In der digitalen Welt zurechtzukommen, ist eines der großen Themen unserer Zeit.

Und es gibt Untersuchungen der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Anm. d. Red.), wonach 90 Prozent oder mehr der jungen Menschen nicht wirklich wissen, wie man Fakten von bloßen Meinungen oder Fake News unterscheiden kann. Ein Großteil der so genannten digital Natives hat keine Idee, wie man das herausfindet.

Die meisten Menschen verstehen auch die Natur der Algorithmen nicht, die hinter dem steckt, was sie bei Google oder auf den Sozialen Medien ganz oben angezeigt bekommen. Sie denken immer noch, es sei das Relevanteste oder Populärste und nicht das, wovon zum Beispiel Google denkt, dass damit am meisten Geld verdient werden kann.

Es gibt Untersuchungen, wonach 90 Prozent der jungen Menschen nicht wissen, wie man Fakten von bloßen Meinungen oder Fake News unterscheiden kann.
Gerd Gigerenzer

Sie haben mal untersucht, was die Menschen für mehr Privatsphäre in den sozialen Medien zahlen würden. Das Ergebnis hat überrascht, oder?

Es hat vor allem für Deutschland überrascht. Die heutige Form der digitalen Überwachung wäre für die Stasi ja wohl der größte Traum gewesen. Die Deutschen sollten daher besonders sensibel sein. Wir haben die Menschen gefragt, was ihre größte Angst im digitalen Bereich ist. Die Antwort lautet jedes Jahr: Dass wir nicht wissen, was mit unseren persönlichen Daten passiert.

Aber Firmen wie Facebook oder Google müssen von etwas leben. Man bezahlt entweder mit Geld – oder eben mit Daten. Bei unserer aktuellen Umfrage in diesem Jahr waren 72 Prozent der Deutschen nicht bereit, auch nur einen einzigen Euro pro Monat dafür zu bezahlen, dass alle Sozialen Medien keine persönlichen Daten mehr weitergeben.

Portraitfoto von Gerd Gigerenzer

Gerd Gigerenzer (75) ist Psychologe, Zukunfts-, Bildungs- und Risikoforscher. Beim 11. Schulleiterkongress vom 10. bis 12. November in Düsseldorf spricht er zum Thema: „Entscheidungen treffen in der digitalen Welt – Digitale Technologien verstehen und unter Kontrolle behalten.“

Haben Sie eine Erklärung dafür? Als Psychologe.

Man nennt das Privatheitsparadox. Die Menschen beklagen sich, sind aber nicht bereit, zu zahlen. Länder, in denen die Menschen eher bereit wären, etwas für ihre digitale Privatsphäre zu zahlen, sind China oder die Vereinigten Arabischen Emirate.

Aufklärung in den Schulen tut Not

Also jene Länder, in denen die Menschen aktuell erleben, was es heißt, wenn die persönlichen Daten von einem autoritären System missbraucht werden.

Genau. Und Deutschland geht schlafwandelnd in die Überwachung.

Was muss passieren, damit sich das ändert?

Wir müssen Aufklärung in die Schulen bringen und jungen Menschen beibringen, wie das alles funktioniert und zusammenhängt. Es gibt den Digitalpakt Schule – aber da werden im Wesentlichen Geräte in die Schulen gebracht. Aufklärung scheint kaum zu passieren, wie wir aus den Untersuchungen wissen. Dafür müsste man zunächst mal die Lehrer mitnehmen.

Schüler müssen begreifen, dass sie nicht die Kunden sind von Facebook oder Instagram. Sie sind die Ware, die verkauft wird.
Gerd Gigerenzer

Die Schulministerien feiern sich für ihre digitale Offensive. Auf Tablets für alle und schnelles Internet ist man mächtig stolz. Sie sagen: Das reicht alles nicht. Richtig?

Das reicht überhaupt nicht. Wenn die Maschinen smarter werden, müssen auch die Menschen smarter werden. Schülerinnen und Schüler müssen verstehen, dass der Grund dafür, dass sie nichts bezahlen, der ist, dass jemand anderes bezahlt. Dass sie nicht die Kunden sind von Facebook oder Instagram. Sie sind die Ware, die verkauft wird.

Aber Tablets als Lernhilfen, das müsste doch funktionieren. Kinder lieben Technik – und heutzutage gibt es durchaus gute Lernprogramme.

Studien zeigen, dass bestimmte Aspekte von Digitalisierung in der Schule sehr nützlich sind. Dazu gehört Technik, die der Lehrer benutzt. Die Studien zeigen aber auch, dass es Aspekte gibt, die kontraproduktiv sind, die die Leistungen der Schüler nach unten ziehen. Dazu gehören Tablets im Unterricht. Da bräuchte es noch viel mehr eine empirisch orientierte Politik, man müsste sehr genau überprüfen, was ist nützlich und was nicht.

Wer wenig Fehler macht, ist der Beste. Das ist verkehrtherum.
Gerd Gigerenzer

Viele Tablets anzuschaffen, hilft also nicht?

Was wir haben, ist ein Digitalenthusiasmus. Jeder ist dafür, anstatt zu hinterfragen: Wo sind die Vorteile, wie kann man sie nutzen, was sollte man besser lassen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Lernen ein fundamental sozialer Prozess ist. In den USA hat man zum Beispiel versucht, Kinder mit Video-Programmen wie „Baby Einstein“ schon sehr früh sprachlich fit zu machen. Studien zeigen jedoch, dass die alte Methode, nämlich dass Eltern ihren Kindern vorlesen, wesentlich effektiver ist. Die kleinen Kinder sind zwar gefesselt von den Bildern in den Videos – aber sie lernen nichts dabei. Wir lernen von anderen. Das ist auch das Schöne an Schule. Wenn Schule klappt.

Sie haben mal gesagt, die Zukunft brauche „mutige Um-die-Ecke-Denker“. Wie werden unsere Kinder dazu?

Die Idee ist ja oft, Fehler möglichst zu vermeiden. Wer die wenigsten Fehler macht, ist der Beste. Das ist verkehrtherum. Wir sollten Kindern ein Problem geben und nach Lösungen suchen lassen. Auf dem Weg dorthin muss man Fehler machen und aus ihnen lernen. So werden Kompetenzen entwickelt, dass man mitdenken, Lösungen suchen, verschiedene Wege gehen, mit anderen diskutieren muss.

Fehler sollten als wichtige Information dienen, wie man es besser machen kann. Wir brauchen eine positive Fehlerkultur, wir brauchen Menschen, die etwas wagen.

Mitdenkende Bürgerinnen und Bürger gefordert

Risikokompetenz ist eine Eigenschaft, die sie immer wieder propagieren. Warum ist es wichtig für eine Demokratie, risikokompetente Bürger zu haben?

Die Idee von einer Demokratie ist ja, dass die Bürger mitdenken und mitentscheiden. Um das zu können, muss man risikokompetent sein, denn oft gibt es keine sicheren Antworten auf die wichtigen Fragen. Wir brauchen mitdenkende Bürger, die mit ihrer Gesundheit umgehen können. Essen Sie dreimal am Tag und nicht dazwischen, und essen Sie nichts, was Ihre Großmutter nicht als essbar erkennt.

Das kann man Kindern beibringen. Genauso wie Finanzkompetenz oder das Verständnis, wie politische Systeme funktionieren. Warum man wählen muss. Warum man mitdenken, sich informieren, den Mut haben muss, eine eigene Meinung zu haben, und zwar eine fundierte eigene Meinung. Wenn wir uns alle zurücklehnen und denken, dass ein digitaler Assistent wie die Alexa nun alle unsere Entscheidungen trifft, dann ist die Demokratie am Ende.

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