Häusliche Gewalt in der PandemieQuarantäne begünstigt Gewaltdelikte

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Lockdown, Social Distancing, Homeoffice und Quarantäne sind nur ein paar Gründe, weshalb die häusliche Gewalt messbar angestiegen ist in der Pandemie.

Lockdown, Social Distancing, Homeoffice und Quarantäne sind nur ein paar Gründe, weshalb die häusliche Gewalt messbar angestiegen ist in der Pandemie.

Kreis Euskirchen – Schlagen, treten, vergewaltigen, aber auch demütigen, überwachen, isolieren oder einsperren: Häusliche Gewalt kann viele Formen annehmen. Erst recht in einer Zeit, in der Menschen mehr denn je abgeschnitten waren und sind von sozialen Kontakten. Der Runde Tisch gegen häusliche Gewalt im Kreis Euskirchen hatte deshalb einen digitalen Fortbildungsherbst für Fachleute und Interessierte auf die Beine gestellt, der sich vielfältig mit dem Thema befasste.

Zum Abschluss der Reihe gab Professorin Janina Steinert von der Technischen Hochschule München Einblicke in ihr derzeitiges Forschungsprojekt zum Thema „Das private Umfeld – ein Risikofaktor für Frauen und Kinder? Corona und Häusliche Gewalt“. Steinert, die in den Bereichen der globalen Gesundheit und Entwicklungsökonomie forscht, betonte, dass das Projekt noch keine abschließenden Fakten liefert, da die Analysen noch laufen würden. „Ich vermute aber, dass die bisherigen Trends auch im großen Datensatz zu erkennen sein werden“, meinte Steinert.

Und der Datensatz ist in der Tat groß: Grundlagen ihrer Untersuchung sind eine repräsentative Online-Befragung von rund 4000 Frauen im April 2020, die Abfrage von Hilfegesuchen bei Hotlines, Frauenhäusern und Beratungsstellen sowie eine Online-Umfrage unter Expertinnen aus dem Bereich Sozialarbeit. Ausgewertet wurden bislang nur die repräsentative Umfrage unter Frauen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft und sozialer Hintergründe sowie die Hilfegesuche bei der Telefon-Seelsorge.

Häusliche Gewalt messbar angestiegen in der Pandemie

Lockdown, Social Distancing, Homeoffice und Quarantäne seien nur ein paar Gründe, weshalb die häusliche Gewalt messbar angestiegen sei in der Pandemie. Auch finanzielle Sorgen, psychische Belastungen und der erhöhte Betreuungsaufwand durch Kita- und Schulschließungen seien Komponenten, die die Gewalt fördern. Für betroffene Frauen gab es in dieser Zeit kaum Zugang zu Hilfenetzwerken.

Häufig, so Steinert, werde häusliche Gewalt auch durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kitas und Schulen erkannt, die aber zu der Zeit geschlossen waren. Zwischen Stress, etwa ausgelöst durch den erhöhten Betreuungsaufwand der Kinder oder wirtschaftliche Sorgen, und dem Risiko für häusliche Gewalt bestehe ein nachweislicher Zusammenhang, so Janine Steinert.

Hohes Dunkelfeld

Sie betonte, dass es ein hohes Dunkelfeld gebe. Die stark anonymisierte Online-Umfrage unter Frauen ist daher ein gutes Instrument, um einen realistischen Wert zu erhalten. Abgefragt wurde nur die Zeit der ersten Phase des Lockdowns im Frühjahr 2020: Die Zahl der Frauen und Kinder, die zu Hause Opfer körperlicher Gewalt wurden, war größer, wenn sich die Frauen in Quarantäne befanden, der Partner arbeitslos geworden oder in Kurzarbeit war. Ein großer Stress- und damit Risikofaktor war bei den Befragten die Betreuung von Kindern unter zehn Jahren. „Wenn jüngere Kinder im Haushalt leben, steigt das Risiko für gewalttätige Auseinandersetzungen“, so Steinert.

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Die Anzahl an Hilfegesuchen während des Lockdowns ist stark gestiegen – in der Untersuchung nachweislich bei der Telefon-Seelsorge um 25 Prozent. „Je stärker die Ausgangsbeschränkungen in den Bundesländern waren, desto höher scheint der Anstieg“, so Steinert. Besonders deutlich wurde dies bei Hilfegesuchen per Chat, „einer diskreten Möglichkeit der Kontaktaufnahme, auch wenn der Täter im Haus ist“, meint Steinert.

Man darf gespannt sein auf die endgültige Auswertung des Projekts, laut Steinert ist es die erste große Untersuchung in Deutschland. Basierend auf den bisherigen Ergebnissen, empfahl sie, das Notbetreuungsprogramm für Kinder auszubauen und Kindern wie Frauen kreative, alternative Möglichkeiten zu bieten, über ihre Nöte und Sorgen in ihrer Lebenswelt zu berichten.

In Frankreich etwa wurde von einer Kinderorganisation ein Online-Spiel entwickelt, bei dem die Kinder über Avatare in der virtuellen Welt über ihren Alltag berichten. Auch der präventiven Aufklärung in Schulen, was unter Gewalt und Grenzüberschreitungen zu verstehen ist, misst Janine Steinert eine große Bedeutung bei: „Es gibt empirische Studien, die belegen, dass alleine die Aufklärung von Kindern das Reporting deutlich erhöht.

Brötchentüten mit wichtigen Notrufnummern und Anlaufstellen

„Gewalt kommt nicht in die Tüte“ lautet das Motto der Brötchentütenaktion, die die Frauenberatungsstelle bereits seit dem Sommer kreisweit umsetzt. Zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen verteilten sie die Tüten auf dem Bahnhofsvorplatz in Euskirchen an Passantinnen.

Die Tüte, gefüllt mit kleinen Überraschungen und Infomaterial zu Wegen aus der Gewalt, werden auch im normalen Verkauf in verschiedenen Bäckereien im Kreis Euskirchen über die Theke gereicht. Auf diesem Weg werden Notrufnummern und Anlaufstellen in möglichst viele Haushalte gebracht – auch an Frauen, die ansonsten wenig soziale Kontakte haben.

Gewalt ist in vielen Familien trauriger Alltag: Auch im Kreis Euskirchen melden sich jährlich über 100 Frauen in der Frauenberatungsstelle, die akut von häuslicher Gewalt betroffen sind. Zu erreichen ist die Beratungsstelle des Vereins „Frauen helfen Frauen“ unter Tel. 0 22 51/75 140. (hn)

Janine Steinerts Empfehlungen an die Politik: Rettungspakete, die akute wirtschaftliche Nöte vermeiden, verstärkt niedrigschwellige und kostenfreie Zugänge zu Beratungs- und Hilfestellungen mit diskreten Zugangsmöglichkeiten. Nicht zuletzt sollten Kitas und Schulen unbedingt offenbleiben.

Ellen Mende, Mitarbeiterin der Frauenberatungsstelle Euskirchen des Vereins „Frauen helfen Frauen“, merkte am Ende des Vortrags an, dass sich die dargestellte Situation mit den Erfahrungen aus der Beratungsstelle decke. „Es ist sehr erschreckend, was da passiert, und es wäre eigentlich nötig, in den Familien einen proaktiven Ansatz zu fahren, was in Zeiten von Lockdowns eher schwierig ist.“ In letzter Konsequenz könne man noch gar nicht absehen, welche geballten Folgen die Pandemie und ihre Auswirkungen auf Gewalt in den Familien gesamtgesellschaftlich haben werde.

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