Der Fonds Sexueller Missbrauch wird eingestellt, obwohl die Fortführung im Koalitionsvertrag stand. Rudi Esch vom Weißen Ring begleitete viele Antragsteller.
Fonds Sexueller MissbrauchAuch Bürgern aus dem Kreis Euskirchen erhielten Hilfsleistungen

Mit einer beeindruckenden Aktion wurde 2019 in Hameln der sexuell missbrauchten Kinder in Lügde gedacht. Sie steht auch sinnbildlich für alle anderen Kinder und Jugendlichen in Deutschland, die sexuelle Gewalt erfahren haben: Statistisch ein bis zwei in jeder Schulklasse.
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Der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM), der in den vergangenen zwölf Jahren eines der wichtigsten Hilfesysteme für Betroffene war, wird nicht weitergeführt. Die Entscheidung mache sie fassungslos, kommentierte Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des Weißen Rings vor zwei Wochen, als der Bundestag den Etat 2026 beschlossen hatte, der trotz der im Koalitionsvertrag nachzulesenden Absichtserklärung, den Fonds weiterzuführen, keine Gelder mehr vorsieht. „Die Politiker wissen gar nicht, was sie damit anrichten“, sagt Rudi Esch vom Weißen Ring, der die Antragstellenden seit 2013 bei dem Prozess begleitet und unterstützt hat.
Esch, der als einer der Ersten für die Aufgabe ausgebildet wurde, Betroffene bei dem Verfahren zu unterstützen, hat 260 Anträge von Menschen, die in ihren Familien sexuelle Gewalt erlebt haben, und 60, die im kirchlichen Umfeld missbraucht wurden, begleitet.
Wenn der Euskirchener von dieser Zeit erzählt, wird schnell deutlich, dass dieses Ehrenamt nicht spurlos an ihm vorübergegangen ist. Selbst dem altgedienten Opferschützer wurden das Ausmaß und die Häufigkeiten solcher an Kindern und Jugendlichen verübten Taten erst in diesen Jahren bewusst. „Ich habe Opfergeschichten gehört, in denen sexuelle Gewalt in allen Schattierungen, in den brutalsten und schlimmsten Formen, die man sich vorstellen kann, vorkommt“, so Esch. Viele der Entscheider in der Regierung könnten sich das Ungeheuerliche, das Kindern und Jugendlichen widerfahre, nicht vorstellen, glaubt der Euskirchener.
Berater Rudi Esch weiß um die Probleme der Opfer
Opfer von sexualisierter Gewalt sind besonders vulnerabel. Und sie kämpfen meist ihr Leben lang mit den Folgen des Missbrauchs. Manche würden erst mit 30, 40 oder 60 anfangen, sich diesem Kapitel ihres Lebens zu widmen, „viele haben das ihr ganzes Leben einfach mitgeschleppt“, sagt Rudi Esch. Und weiter: „Sie haben geatmet, aber nicht gelebt. Sie haben mit dieser Last im besten Fall funktioniert.“ Andere gelten im Gesundheitssystem mit ihren Problemen – körperliche Erkrankungen, Depressionen, PTBS, Angst- und Essstörungen, um nur einige zu nennen – als austherapiert.

Rudi Esch, EHS-Berater beim Weißen Ring, versteht nicht, warum die Politik den Fonds sexueller Missbrauch einstellt.
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Das Kontingent an Psychotherapiestunden ist seitens der Krankenkassen gedeckelt, sodass Betroffene sich selbst überlassen sind, wenn dieses ausgeschöpft ist. „Hier war der Fonds als niederschwellige, unbürokratische Hilfe genau das Richtige“, sagt Esch. Der häufigste Wunsch der Antragstellenden seien zusätzliche Therapiestunden gewesen, bei manch einem auch der Wunsch nach Reit-, Kunst- oder Musiktherapie, die nicht von den Kassen finanziert wird. Auch Assistenzhunde, Umzüge, Umschulungen, nachgeholte Schulabschlüsse seien über den Fonds bezuschusst worden.
Viele der Opfer haben geatmet, aber nicht gelebt. Sie haben mit dieser Last im besten Fall funktioniert.
Der rückwirkende Antragsstopp im Juli empörte Verbände, Vereine und Institutionen im ganzen Land. Auch Rudi Esch musste fünf Menschen aus der Region erklären, dass ihre Anträge nun nicht mehr bearbeitet werden: „Das war für mich alles andere als einfach.“ Nur eine Person habe es gelassen hingenommen. Die anderen seien sehr enttäuscht gewesen, „weil sie sich zu der Antragstellung überwunden hatten, was ja auch schon ein riesiger Schritt ist“.
30 Organisationen und Verbände haben einen Offenen Brief verfasst
Über den Fonds Sexuellen Missbrauch haben viele Betroffene neuen Lebensmut gefunden, weiß Rudi Esch, schon damit, dass ihre Geschichten angehört wurden. Und allein dieser eine Satz im Anschreiben des Bescheids habe große Wirkung gehabt: „Sie wurden als Betroffene anerkannt.“
Die Entscheidung des Bundestages, keine weiteren Mittel für eine Fortführung des FSM bereitzustellen, hat massive Kritik ausgelöst. Rund 30 Organisationen – darunter der Weiße Ring – haben in einem Offenen Brief gefordert, eine Lösung zu finden, mit der die Aussagen des Koalitionsvertrages eingehalten werden.
„Der FSM stellt häufig die einzige Möglichkeit für von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend Betroffene dar, eine Form der staatlichen Anerkennung und Unterstützung zu erhalten“, heißt es in dem Schreiben, das an die Fraktionsvorsitzenden von Union und SPD im Bundestag, Jens Spahn und Matthias Miersch, sowie an die Unabhängige Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus ging. Rudi Esch: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen, die das entscheiden, so engstirnig sind! Geld fehlt überall. Ich hoffe wirklich, dass Betroffenen wieder ein niederschwelliger Zugang zu Hilfe ermöglicht wird.“
Dass sexuelle Gewalt im Kindes- oder Jugendalter kein Nischenthema ist, zeigt auch die Statistik: Zwei repräsentative Studien aus den vergangenen Jahren kommen laut der Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen (UBSKM)) zu dem Ergebnis, dass etwa jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland in jüngeren Jahren sexuelle Gewalterfahren musste. Und die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass heutzutage bis zu eine Million Kinder und Jugendliche im Land bereits sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren haben oder immer noch erleben. Besser vorstellbar wird das Ungeheuerliche, wenn man es herunterbricht: „Das sind rund ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse“, erklärt die UBSKM.
Der Koalitionsvertrag sah eigentlich vor, den Fonds weiterzuführen
Der Fonds Sexueller Missbrauch bot seit 2013 Unterstützung, wo andere Hilfesysteme wie etwa das Opferentschädigungsrecht nicht greifen konnten – zum Beispiel, weil die Taten nicht angezeigt worden waren. Es war ein niederschwelliges Hilfsangebot für Betroffene, die unter den seelischen und körperlichen Folgen des Erlittenen meist ihr ganzes Leben leiden. Bezuschusst wurden Sachleistungen – hauptsächlich Therapiestunden – in Höhe von maximal 10.000 Euro. Insgesamt 36.000 Anträge wurden gestellt, 165,2 Millionen Euro wurden in den zwölf Jahren ausgezahlt – das heißt: im Schnitt 4590 Euro pro Antragsteller.
Nach einer Prüfung durch den Bundesrechnungshof wurde die Praxis der Bewilligung und Auszahlung der Leistungen als nicht haushaltsrechtskonform beurteilt. Im März 2025 teilte der Fonds deshalb mit, dass Erstanträge noch bis zum 31. August eingereicht werden können und die Hilfen bis Ende 2028 zur Verfügung stehen. Im Juni dann wurde mitgeteilt, dass bei der Geschäftsstelle des Fonds mehr Anträge eingegangen seien als erwartet, sodass nur die vor dem 19. März 2025 eingegangenen Anträge bearbeitet werden könnten. Die verfügbaren Haushaltsmittel seien vorzeitig erschöpft.
Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung stand, dass man die ergänzenden Hilfen für Missbrauchsopfer weiterführen wolle. Im kürzlich beschlossenen Bundeshaushalt jedoch sind keine weiteren Gelder mehr für Betroffene vorgesehen.

