Ärztemangel, Krankenhausreform und zu häufige Operationen: Der scheidende Euskirchener AOK-Chef nimmt kein Blatt vor dem Mund.
GesundheitsversorgungIm Bereich Euskirchen ist der Ärztemangel besonders akut

Technischer Fortschritt könnte die Probleme in der medizinischen Versorgung eindämmen, sagt Helmut Schneider.
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Als Helmut Schneider 2006 Regionaldirektor bei der AOK wurde, war ein Thema im Kreis Euskirchen bereits akut, das ihn die folgenden 19 Jahre bis zu seinem Ruhestand begleiten sollte: die medizinische Versorgung im Kreis Euskirchen.
„Schon damals hatten einzelne Ärzte Schwierigkeiten, Nachfolger zu finden“, erinnert er sich. Sehr früh habe man eine Arbeitsgruppe zu der Frage gebildet, wie man mehr junge Mediziner in den Kreis bekommen könne. Doch eine Lösung sei schwierig. Eine aktive Akquise der Kommunen sei im Gange, aber auch dringend erforderlich.
In Euskirchen, Zülpich, Weilerswist und Bad Münstereifel werden die Ärzte knapp
Am meisten Sorge breitet Schneider zufolge derzeit der Mittelbereich Euskirchen, zu dem neben der Kreisstadt die Kommunen Bad Münstereifel, Zülpich und Weilerswist gehören. „Hier haben wir die meisten freien Sitze, da könnten sich Hausärzte direkt niederlassen.“
In Mechernich und im Schleidener Tal gebe es aktuell weniger freie Plätze: „Die Stellen dort sind zurzeit ganz gut besetzt.“ Doch das sei immer nur eine Momentaufnahme: „Wir haben schon einen sehr hohen Altersdurchschnitt bei den Ärzten, insbesondere im Mittelbereich Schleiden.“
Die Medizin wird immer weiblicher.
Die Ursachen für die Misere seien vielfältig, sagt der AOK-Chef. „Die Medizin wird immer weiblicher“, nennt er eine. Inzwischen gebe es bundesweit mehr praktizierende Medizinerinnen als Mediziner. Das sei prinzipiell eine erfreuliche Entwicklung, habe allerdings die Nebenwirkung, dass die Zahl der Niederlassungen sinke.
„Viele Frauen möchten eine Familie haben, weswegen sie sich dann nicht in die Selbstständigkeit begeben“, erläutert Schneider. Familie und Beruf ließen sich besser in einem Angestelltenverhältnis vereinbaren als in einer selbst geführten Praxis. Das fange schon beim Mutterschutz an.
Ein Arzt mit eigener Praxis muss ein halber Manager sein – mindestens
Zudem, das treffe aber auch auf die Männer zu, werde es immer aufwendiger, eine Praxis zu führen: Bürokratie, Investitionen und damit verbundene Schulden sowie die Beschäftigung von Personal erforderten schon einiges darüber hinaus, was den medizinischen Beruf als solchen ausmache. „Mir hat mal ein Arzt gesagt, dass eigentlich einige Semester Betriebswirtschaft im Medizinstudium verpflichtend sein müssten“, erzählt er. Selbstständige Mediziner seien auch halbe Manager – mindestens.
Darum trauere er auch dem Modell „Gesundheitszentrum Schleiden“ nach, das er während der Diskussion um die Zukunft des dortigen Krankenhauses aufgebracht hatte, sagt Schneider. Ärzte verschiedener Fachrichtungen, dazu Physiotherapeuten, Sanitätshaus, Apotheke – das alles, unter einem Dach vereint, hätte sicher Zukunft gehabt.
Das Modell „Gesundheitszentrum“ in Schleiden ist gescheitert
Und als Angebot für die Mediziner noch eine Verwaltungseinheit im Gebäude, die auf Wunsch und gegen Bezahlung die Bürokratie für die Praxen übernehme: von Abrechnungen mit den Kassen über IT bis hin zur Personalverwaltung. „Das hätte ich schon gerne in Schleiden gehabt“, gesteht der Reifferscheider.
Das Land NRW habe auch eine Förderung solcher Gesundheitszentren ausgeschrieben. Maximal vier Zentren sollten in NRW finanziell gefördert werden. „Leider ist aus dem Kreis Euskirchen keine Bewerbung erfolgt“, bedauert Schneider.
Werden die Menschen im Kreis Euskirchen also in ein paar Jahren große Schwierigkeiten haben, eine Praxis zu finden? Oder halbe Tage in Wartezimmern verbringen? „So schwarz will ich nicht malen“, macht der Gesundheitsexperte Hoffnung: „Da gibt es immer Zyklen.“ Zudem sei viel Bewegung im System.
AOK-Regionaldirektor: Es wird zu schnell operiert
„Hausärzte werden lange noch als Lotsen für die Patienten durch das Gesundheitswesen benötigt“, schaut Schneider in die Zukunft. Viele Aufgaben würden künftig aber Arztassistenten (Physician Assistant) übernehmen: bei Hausbesuchen, Beratungen oder Untersuchungen – wenn nötig im Kontakt mit dem Mediziner über Telemedizin. „Das sind hoch qualifizierte medizinische Fachangestellte, die noch ein Studium drangehangen haben“, erklärt Schneider.
Und die Krankenhäuser? Die Reform, die NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) vornehme, sei richtig. Auch im Kreis Euskirchen schlugen die Wellen hoch, aber vorrangig seien die Metropolen betroffen.
„Wir haben vor allem dort zu viele Krankenhausbetten“, sagt Schneider. Leere Betten und Zimmer kosteten viel Geld, und Angebot schaffe Nachfrage: „Es gibt in Deutschland zu viele Operationen, die medizinisch nicht geboten sind.“
Künstliche Hüftgelenke etwa würden oftmals eingesetzt, ohne es zuvor mit Physiotherapie in Verbindung mit Schmerzmitteln zu versuchen, erklärt Schneider und nennt ein weiteres Beispiel: „Wir hatten zeitweise in München mehr Linksherzkatheder-Plätze als in ganz Italien.“
Im Grunde sei es auch nicht immer aus Gesundheitsgründen geboten, dass die Deutschen im Schnitt 17 Mal im Jahr einen Arzt aufsuchen. Wer Hilfe brauche, solle sie aber selbstverständlich auch erhalten. Und ganz wichtig seien Vorsorgeuntersuchungen.