Landarzt in DürenSebastian Haaß ist überzeugter Provinz-Mediziner

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Wie aus dem Bilderbuch – der Allgemeinmediziner Dr. Sebastian Haaß auf dem Weg zu einem Hausbesuch.

Wie aus dem Bilderbuch – der Allgemeinmediziner Dr. Sebastian Haaß auf dem Weg zu einem Hausbesuch.

Düren – Grippezeit. Im Wartezimmer von Allgemeinmediziner Sebastian Haaß (und Kollegen) in Merken am Rande von Düren ist viel los. Aber anders als in Köln haben die Leute Lust auf ein Schwätzchen. Der Lebensmittelladen hat zugemacht, die Sparkasse ihre Filiale geschlossen, nur noch die Raiffeisenbank hält die Stellung, aber Bäckerei und Metzgerei sind geöffnet, man kann an einem Kiosk Post-Pakete abgeben. Und man findet zwei Hausarztpraxen.

Von Vater zu Sohn

Christine Weß (67, Schulterverletzung) ist der Haaß’schen treu. Sie erinnert sich noch daran, dass ihr jetziger Hausarzt ein Junge war und sein Vater hier praktizierte. „Der Sebastian“, sagt Christine Weß, „war mit meinem Sohn bei der Feuerwehr. Das ist ein ganz feiner Kerl. Der kann mit jedem. Und der ist zuverlässig: Der ruft sogar aus dem Urlaub zurück.“

Patientin Christine Weß kennt Haaß von Kindesbeinen an.

Patientin Christine Weß kennt Haaß von Kindesbeinen an.

Auch Renate und Heinz-Josef Quast (beide 77) haben ihr Vertrauen vom Mediziner-Vater auf den Sohn übergehen lassen. „Ein gutes Verhältnis zum Hausarzt ist wichtig, allemal, wenn man Herzschrittmacher und Stent in sich trägt …“ Ehefrau Quast hält auch dem Zahnarzt die Treue, der ihrem Sohn die Zahnspange anpasste; ihr Sohn ist jetzt 52.

Dann ist das Thema Krankheiten durch. Es ziehen junge Familie zu, die beiden Kindergärten sind voll, die Grundschulen auch. Der Tagebau kommt dräuend voran, man kann den Riesenbagger schon sehen…

Sebastian Haaß betritt die Szene: ein großer Schlaks, roter Pulli, weiße Hose, weiße Turnschuhe. Landarzt. Und nicht, wie die meisten Vertreter seines Berufes, grau meliert, sondern 34 Jahre alt.

Immer weniger Landärzte

Anderswo würde ihn der Bürgermeister mit einem Baugrundstück, Brötchenabo und freiem Beitrag im örtlichen Tennis- oder Golfverein locken, Landärzte gelten als aussterbende Spezies. 60 Prozent der Allgemeinmediziner gehen in den nächsten fünf, sechs Jahren in den Ruhestand, die wenigsten finden einen Nachfolger.

Überaltert

552 Hausärzte in NRW sind jünger als 40 Jahre. Das sind nur

4,9 Prozent aller Hausärzte. Deren Zahl liegt nach Angabe des NRW-Gesundheitsministeriums bei 11 224.

Mehr als die Hälfte von ihnen könnte vom Alter her in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen. Für die Berechnung des Hausarztbedarfs ist NRW in

205 Bezirke eingeteilt, Mittelbereiche genannt. Davon hat ein Drittel (66) einen Hausarzt-Versorgungsgrad, der unterhalb von 100 Prozent liegt. Davon liegen 19 in Nordrhein (also im Süden von NRW) und weitere 47 in Westfalen-Lippe. (bce)

Bemühungen der Landespolitik, Ärzte aufs Land zu locken, fruchten nur langsam. Während in Städten die Arztdichte höher ist, als den Krankenkassen lieb ist, herrscht auf dem platten Land die blanke Not. Selbst florierende Praxen bleiben unbesetzt.

Landarzt aus voller Überzeugung

Für Sebastian Haaß ist das ein Rätsel. Er sagt, er sei „ein Überzeugungstäter“. Sein Vater hat sich 1986 aus Mönchengladbach kommend mit seiner Ehefrau in Inden niedergelassen – ein Wohnhaus mit Flachdach ausgebaut und aus dem Wohnzimmer eine Praxis gemacht. „Ich bin hier aufgewachsen in diesem Haus mit drei Geschwistern, auch meine kleine Schwester studiert Medizin. Ich war immer schon Vaterkind und fand alles in der Praxis interessant.“ Das größere Problem auf dem Weg zum Facharzt war sein Abiturschnitt …

2013 starb sein Vater – die im Dorf verankerte und verehrte Persönlichkeit – plötzlich an Krebs. „Ich war mitten in meiner Facharztausbildung, das war weder fachlich noch emotional eine einfache Zeit, und musste mich als „Kleiner“ schon um alles kümmern.“ Aber der Laden mit zwei Dependancen „läuft“. Warum suchen so viele Hausärzte in ländlicher Umgebung vergeblich Nachfolger?

Soziale Kompetenz wichtig

Das liegt am Numerus clausus, meint Haaß. Viele, die nach einem Einser-Abitur-Medizin studieren, seien danach besser in der Forschung aufgehoben und blieben auch dort – „ein gutes Abizeugnis bedeutet ja nicht automatisch soziale Kompetenz, soziale Intelligenz. Ohne die kommt man im Umgang mit den vielen Patienten täglich aber nicht aus.“ Die Chemie muss stimmen, wer aus sich heraus so freundlich und zugewandt ist wie Haaß, den schließen Patienten jeden Alters ins Herz.

Vertrauenssache: Der Hausarzt im Gespräch mit treuen Patienten.

Vertrauenssache: Der Hausarzt im Gespräch mit treuen Patienten.

Hauptproblem der jungen Ärzte sei, glaubt er, die Angst vor der großen Verantwortung, vor dem Praxis-Betrieb. „Ich habe an den drei Standorten hier 40 Mitarbeiter, viele davon in Teilzeit, davon zehn angestellte Ärztinnen und Ärzte. Die haben maximale Sicherheit, mit Lohnfortzahlung und allem. Die fragen nicht, ob ein Monat finanziell gut gelaufen ist. Vielleicht geht dahin der Trend: Dass einige mit unternehmerischem Geist Praxen führen und andere Mediziner als Angestellte arbeiten.“

Das Grundgehalt für einen Allgemeinmediziner liege bei 6500 Euro, hinzu kämen erkleckliche Zuschläge für Sonntagsdienste (kassenärztliche Notdienste).

Hausarztberuf wird zu wenig umworben

Warum sind selbst lukrative Wald-und-Wiesen-Praxen so unbeliebt? „Da fragen Sie den Falschen. Ich finde, das ist eine befriedigende Aufgabe, und ich verdiene wirklich gut. Andere Menschen arbeiten auch hart und lange für ihr Geld. Die offiziellen Zahlen der KV liegen bei einem Durchschnittseinkommen für Allgemeinmediziner von 150 000 Euro im Jahr. Das ist doch wahrhaft gutes Geld.“ Radiologen gelten aber als Spitzenverdiener in der Ärzteschaft. „Radiologie? Da wäre ich depressiv geworden – immer nur auf einen Monitor zu starren …“

Es werde zu wenig geworben für den Hausarztberuf. „Die meisten jungen Kollegen haben gar keine Ahnung, was in einer Praxis abgeht, die kennen die Universität, die kennen die Uni-Klinik mit Hochleistungsmedizin, aber ein längeres Praktikum in einer Praxis gehört nicht zwingend dazu.“

Das Praktische Jahr am Ende des Studiums böte die Chance, für Allgemeinmedizin zu werben. Wenn Universitäten niedergelassene Mediziner anschrieben und nach Praktikumsplätzen fragten: „Da würde doch kein Kollege Nein sagen. Erst recht nicht, wenn er oder sie auf die 65, 70 zugeht und sich allmählich zurückziehen, aber seine Praxis um des Kundenstammes willen erhalten will.“

Hohes Arbeitspensum

Haaß befürchtet aber einen ganz anderen Grund für den Landarztmangel: Bequemlichkeit. „So manch einer will viel Freizeit haben, nicht am Wochenende arbeiten. Und am Krankenhaus nach Dienstschluss die Karte stecken und nach Hause gehen.“

Im Schnitt 60 Stunden (inklusive Wochenenden) – das ist sein Pensum, manchmal auch nur 50, aber die mindestens. „Ich habe einen der teuersten Studiengänge im Land fast gratis absolviert – da muss ich der Gesellschaft auch etwas zurückgeben. Ich finde das angemessen. Andere arbeiten auch viel für ihr Geld. “

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Gut, der bürokratische Aufwand sei nicht zu unterschätzen. Vor allem kritisiert Haaß, dass betriebswirtschaftliche Aspekte oder Hinweise zur Unternehmensgründung im sechsjährigen Studium nicht thematisiert werden.

Balance zwischen Nähe und Distanz schaffen

Sebastian Haaß und sein großes Team sind überzeugend engagiert für die Patienten da, Hausbesuche gehören „zu jeder Zeit“ dazu. „Aber ich wohne nicht hier in Düren, sondern mit meiner Ehefrau und meiner kleinen Tochter in Köln, mit 30 Minuten Fahrzeit im Notfall. Ich möchte offen gestanden nicht beim Einkaufen im Supermarkt eine frische Wunde gezeigt kriegen…“

Eine gewisse Balance zwischen Nähe und Distanz ist eben auch in einem 3500-Einwohner-Ort eine sinnvolle Sache.

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