MissbrauchEiserfeyer waren als Kinder in Heilanstalt, in der andere ein Martyrium erlebten

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Das Hauptgebäude ist in einem heruntergekommenen Zustand. Auch das Umfeld macht einen verwahrlosten Eindruck.

Inzwischen eine Bauruine: Das Hauptgebäude der ehemaligen Klinik Aprath. Im Jahr 1961 verbrachten die Geschwister Rita und Werner Breuer aus Eiserfey, damals gerade vier und sechs Jahre alt, rund ein halbes Jahr in der Einrichtung in Wülfrath.

Rita und Werner Breuer lebten Monate in einer Kinderheilanstalt, in der laut Historikerin Gewalt und sexueller Missbrauch stattfanden.   

Ein Telefonanruf ihrer Schwester Elisabeth holte die Erinnerung zurück. „Sie war ganz besorgt, als sie mich anrief“, erzählt Rita Breuer, die in Eiserfey aufgewachsen ist und heute in Euskirchen lebt. „Im Fernsehen hatte Elisabeth einen Bericht über die Kinderheilstätte Aprath in der Nähe von Wuppertal gesehen“, berichtet Rita Breuer im Gespräch mit dieser Zeitung. „Seitdem beschäftigt mich das Thema jeden Tag.“ Denn als kleines Mädchen verbrachte Rita Breuer rund ein halbes Jahr in der Klinik.

Heute ist bekannt, dass viele Kinder in den 1950er und 60er-Jahren ein wahres Martyrium während ihres Aufenthalts in der Klinik erlebten. Ehemalige „Verschickungskinder“, die damals Wochen oder sogar Monate wegen Lungenkrankheiten wie Tuberkulose in der Einrichtung verbrachten, berichten von einer repressiven und autoritären Atmosphäre, die dort geherrscht habe.

Die Historikerin Carmen Behrendt hat die Geschichte der 1910 gegründeten Heilstätte Aprath aufgearbeitet. Im System von Vernachlässigung und Gewalt hätten Schwestern und Betreuerinnen „eine zentrale Rolle“ gespielt, so Behrendt. Ehemalige Patienten berichten von Ohrfeigen, Stockschlägen und Strafen, weil sie sich erbrochen oder ins Bett gemacht hatten. Auch sexueller Missbrauch sei immer wieder vorgekommen, so die Historikerin.

Rita Breuer nahm an mehreren Paralympischen Spielen teil

An den Kindern sollen auch Medikamententests durchgeführt worden sein: 1956, ein Jahr vor der Markteinführung, sei das Schlafmittel Contergan beziehungsweise dessen Wirkstoff Thalidomid an Kindern mit Keuchhusten getestet worden.

Rita Breuer kann sich an die Monate in Aprath selbst nicht mehr erinnern. „Ich war damals vier Jahre alt, ich habe keine aktive Erinnerung an die Zeit.“ Bei ihrem Bruder Werner ist das ein bisschen anders: „Ich weiß noch, dass ich sehr großes Heimweh hatte“, sagt der Eiserfeyer, der 1961 gerade sechs Jahre alt war: „Ich bin dort eingeschult worden und habe das erste Schulhalbjahr dort verbracht.“

Werner und Rita Breuer, wie sie heute aussehen.

Die Geschwister Werner und Rita Breuer waren als kleine Kinder im Jahr 1961 rund ein halbes Jahr lang in der Lungenheilanstalt Aprath. An Misshandlungen oder Grausamkeiten können sie sich nicht erinnern.

Traumatische Erinnerungen seien aber auch bei ihm nicht hochgekommen, als er in diesen Wochen erfahren hat, wie andere Verschickungskinder ihren Aufenthalt in der Klinik erlebt haben.

„Das war natürlich eine ganz andere Zeit“, sagt Werner Breuer. „Aber an Schläge, Missbrauch oder andere Grausamkeiten kann ich mich nicht erinnern – weder bei mir noch bei den anderen Kindern auf meiner Station.“ Vielleicht habe man auch einfach nur Glück gehabt. Das einzig negative neben dem Heimweh seien die Spritzen gewesen, die er regelmäßig verabreicht bekam. „Da hatte ich ein bisschen Angst davor. Ich weiß aber nicht, wofür oder wogegen die Spritzen gut waren.“

Historikerin berichtet von Schlägen und sexuellem Missbrauch in Anstalt

Dass die beiden Geschwister überhaupt „zur Erholung“, wie man es damals formuliert habe, nach Aprath gekommen sind, hat natürlich eine medizinische Vorgeschichte: Im Jahr zuvor, 1960, erkrankten Rita und Werner Breuer schwer und kamen ins Krankenhaus nach Mechernich. „Wahrscheinlich war es Tuberkulose“, sagt der Eiserfeyer, der über diese Zeit nur das weiß, was später in der Familie erzählt wurde.

„Wir haben aber nie von einer genauen Diagnose erfahren“, sagt er: „Ich kann mich nur daran erinnern, dass der Kreisarzt mich mit einer Tinktur eingepinselt hat und sagte, dass ich lungenkrank wäre, wenn sich an der Stelle Pickel bilden würden. Die Pickelchen kamen und ich war sogar stolz, dass ich so eine besondere Krankheit hatte.“

An Missbrauch in der Anstalt können sich die Eiserfeyer nicht erinnern

In Mechernich kamen die beiden Geschwister auf die Quarantäne-Station – ein Aufenthalt, der für Rita Breuer eine lebensverändernde Erkrankung brachte, denn sie infizierte sich dort mit dem Polio-Virus und erkrankte an Kinderlähmung. Seitdem sitzt die heute 67-Jährige im Rollstuhl.

Fast ein Jahr lang waren Rita und Werner Breuer von den Eltern und den Geschwistern getrennt. „Ein halbes Jahr im Krankenhaus in Mechernich, danach ein weiteres halbes Jahr in Aprath“, zählt Werner Breuer auf: „Als ich nach Eiserfey zurückkam haben alle gelacht, weil ich kein richtiges Eifeler Platt mehr gesprochen habe“, weiß er von den Erzählungen in der Familie: „Wie das im Bergischen Dialekt üblich ist, habe ich an jeden Satz ein ‚woll‘ drangehängt statt des rheinischen ‚ne‘.“

Besuch von Zuhause habe es während der Zeit in Aprath nicht gegeben. „Unsere Eltern waren einfache Leute, ein eigenes Auto gab es bei uns nicht“, berichtet Rita Breuer. Für die beiden Kinder war die Zeit in Aprath auch nicht der einzige Kuraufenthalt.

Rita Breuer lebt heute in Euskirchen und ist zweifache Olympiasiegerin

„Ich war damals ein richtiger Hungerhaken, das kann man sich heute nur schwer vorstellen“, sagt der Eiserfeyer lachend und deutet auf seinen Bauch. „Es hat geheißen, ich hätte einen Schatten auf der Lunge und deshalb war ich danach noch mehrmals in Kur.“

Auch für seine Schwester schlossen sich in der Kindheit noch weitere Erholungsaufenthalte an, weil sie weiterhin Probleme mit der Lunge hatte. „Es ist noch heute so, dass mir zum Beispiel die salzige Seeluft guttut“, sagt Rita Breuer, die trotz – oder gerade wegen – ihrer gesundheitlichen Probleme auch eine steile Sportkarriere hingelegt hat. Die gebürtige Eiserfeyerin ist zweifache Olympiasiegerin, mehrfache Welt- und Europameisterin – im Rollstuhlbasketball.

„Unser damaliger Dorflehrer in Eiserfey hat sich dafür eingesetzt, dass ich aufs Gymnasium gehen konnte“, sagt die 67-Jährige. „Er hat gemeint, dass ich als behindertes Kind eine gute Schulbildung brauche und unsere Eltern überzeugt, mich aufs damals gerade neu gegründete Gymnasium nach Mechernich zu schicken.“ Das befand sich zu der Zeit noch in den Holzbaracken am Nyonsplatz, etwa dort, wo seit einigen Jahren eine Kindertagesstätte besteht.

Werner Breuer spielte beim TSV Feytal Fußball und Handball

Weil aber die tägliche Busfahrt zwischen Eiserfey und Mechernich der  Rollstuhlfahrerin Probleme bereitete, kam sie schließlich auf ein Internat nach Hessisch Lichtenau in der Nähe von Kassel. „Dort gab es ein sehr gutes Rollstuhlbasketball-Team und ich hatte viel Spaß an dem Sport“, erzählt Rita Breuer, die zwischen 1974 und 1992 mit der deutschen Nationalmannschaft regelmäßig an den Paralympischen Spielen teilnahm. Auch heute noch ist sie ein großer Basketball-Fan und besucht gerne die Bundesliga-Spiele der Telekom-Baskets in Bonn.

„Da darf ich dann schonmal als Begleitperson mitfahren“, schmunzelt Bruder Werner, der ebenfalls viele Jahre sportlich aktiv war. „Ich war Torwart beim TSV Feytal, erst beim Fußball, später auch beim Handball.“ Nach seiner aktiven Zeit wurde er Fußball-Schiedsrichter und engagierte sich auch in der Kreis-Spruchkammer.

Im Gegensatz zu seiner Schwester kehrte der Eiserfeyer übrigens noch einmal nach Aprath zurück. „Ich war im vergangenen Jahr wegen eines Autokaufs in der Gegend und habe mich bis zu der Immobilie durchgefragt.“ Die ehemalige Klinik steht schon seit vielen Jahren leer und verfällt zusehends: Nach dem Rückgang der Tuberkulose wurde Aprath zunächst in eine Lungenfachklinik und Anfang der 1980er-Jahre schrittweise in eine Altenpflegeeinrichtung umgewandelt.

In den 2000er-Jahren wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Aber auch der Besuch vor Ort weckte bei Werner Breuer keine alten Erinnerungen mehr: „Da kam kein Gefühl mehr auf“, sagt er. Aber manchmal sei das vielleicht auch besser so.

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