HilfeBlinde iranische Sportler flüchten mit Sohn nach Mechernich und suchen dringend Arzt

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Das Bild zeigt die iranische Familie. Sie sitzen auf einem roten Sofa.

Mohammad Soleimani Khorasgani und Samira Jalilvand sind vor einem Jahr mit ihrem Sohn Amirtaha aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet. Als Blinde haben sie mit besonderen Problemen zu kämpfen.

Das blinde Ehepaar ist aus Angst vor Verfolgung und Verhaftung aus seiner Heimat geflüchtet. Ihr zehnjähriger Sohn hilft beiden im deutschen Bürokratie-Dschungel.

Mühsam versucht Samira Jalilvand mithilfe einer starken Lupe etwas auf dem Handy-Display zu entziffern. Es ist nahezu aussichtslos. Samira Jalilvand hat nur auf einem Auge einen winzigen Rest Sehkraft. Ihr Mann Mohammad Soleimani Khorasgani ist vollständig blind.

Vor einem Jahr sind sie mit ihrem heute zehn Jahre alten Sohn Amirtaha aus ihrer Heimat im Iran nach Deutschland geflüchtet. Seit acht Monaten sind sie in einem Zimmer in der Geflüchtetenunterkunft im einstigen Bundeswehr-Casino in Mechernich untergebracht.

In ihrer Heimat Iran waren die Eltern erfolgreiche Sportler

In ihrer Heimat sind beide erfolgreiche Sportler, nehmen für ihre Nationalmannschaften im Blindensport an zahlreichen internationalen Wettkämpfen teil. Der 44-jährige Mohammad Soleimani Khorasgani ist Gewichtheber im Powerlifting, bis er vor elf Jahren nach einer Verletzung Sportlehrer wird. Samira Jalilvand ist 35 Jahre alt, sie hat bis zu ihrer Flucht 17 Jahre Goalball gespielt.

Geschehnisse abseits des Spielfelds bei und nach den Asia Pacific Championships im Sommer 2022 in Bahrain, wenige Monate vor dem Beginn der Frauenproteste im Iran, treiben Samira Jalilvand und ihre Familie in die Flucht. Es geht um eine Frau, die ihre Meinung vertritt, und einen Mann als Aufpasser der Frauen-Nationalmannschaft.

Probleme beginnen vor dem Turnier in Bahrain

Um eine Bibel auf dem Handy, um Repressionen, ein drohendes Gerichtsverfahren – um eine Familie auf der Flucht. Um quälend lange Monate der Ungewissheit, um die Bürokratie und die besonderen Schwierigkeiten, mit denen behinderte Geflüchtete zu kämpfen haben.

Die Probleme haben laut Jalilvand bereits vor dem Turnier in Bahrain begonnen, als der Verband ihr verboten hat, zusammen mit ihrem ebenfalls nahezu blinden Bruder zu trainieren – weil er ein Mann ist. Verschärft worden seien die Konflikte, als die Funktionäre Sehende ins Team für blinde Frauen brachten, weil sie sich davon bessere Chancen auf Trophäen versprochen haben (beim Goalball tragen alle lichtundurchlässige Brillen, damit Chancengleichheit herrscht). Dass sie, nachdem sie ohne Erfolg das Gespräch mit den Funktionären gesucht hat, dies öffentlich macht, rückt Jalilvand, Kapitänin der Nationalmannschaft, offenbar weiter in den Fokus.

Während die Teamkolleginnen regenerieren, streitet sich Samira Jalilvand mit dem Aufseher

Zum Eklat kommt es beim Wettbewerb in Bahrain. Es geht dort um Tickets für die Paralympics. An einem Tag stehen für die Iranerinnen zwei Spiele an. Sie gewinnen 6:3 gegen Korea. Essen und Regeneration wären vor dem Spiel gegen Australien wichtig – doch der Aufpasser besteht auf Gebete. Samira Jalilvand, zweitbeste Scorerin des gesamten Turniers hinter einer Australierin, interveniert.

Das Resultat: Die anderen Athletinnen dürfen essen und ausruhen, die Kapitänin streitet mit dem Aufpasser. Er nimmt ihr das Handy ab. „Die persönlichen Sachen, auch Handy-Pin und Laptop-Passwort, haben wir schon beim Eintritt ins Nationalteam abgeben müssen“, sagt Samira Jalilvand.

Auf dem Handy findet der Aufpasser die Bibel – wenig verwunderlich, sagt Jalilvand: Im Rahmen ihres Religionsstudiums sei es zwar in der Hauptsache um den Islam, aber eben auch um andere Religionen gegangen. „Ich war aber Muslima, keine Christin“, sagt sie. Nach der Rückkehr nach Teheran habe sie die Nationalmannschaft verlassen wollen, sei aber wegen der Handy-Bibel erpresst worden. Es sei ihr mit einem Gerichtsverfahren gedroht worden.

In einem Meeting sind dann Sachen passiert, über die ich nicht reden will.
Samira Jalilvand

Der Cheftrainer habe sie zum Weitermachen überreden wollen. „In einem Meeting sind dann Sachen passiert, über die ich nicht reden will“, sagt Samira Jalilvand. Danach habe sie große Angst gehabt. Und ihr Mann findet heraus, was geschehen ist: dass seine Frau sexuell belästigt worden ist. Der Druck sei immer größer geworden.

Schließlich habe sie ein Freund aus dem Verband gewarnt. Wegen des „Religionswechsels“ solle sie vor Gericht gestellt werden. „Versucht, was möglich ist, hier rauszukommen“ habe der Freund gesagt, so Jalilvand. Aus Angst vor Verfolgung und Verhaftung nehmen sie und ihr Mann ihren Sohn Amirtaha aus der Schule. Sie verkaufen ihre Wohnung in ihrer Heimatstadt Qasvin, rund 150 Kilometer nordwestlich von Teheran, im Eilverfahren und weit unter Wert. Ein befreundeter Anwalt bereitet binnen eines Monats die Flucht vor.

Im März 2023 kommt die kleine Familien in Deutschland an

Warum die Wahl auf Deutschland fällt bei Sportlern, die viele Länder gesehen haben? Das Ehepaar hat einen blinden iranischen Freund, der in Köln lebt. Deutschland sei das beste Land, wo Behinderte ruhig leben können, habe der ihnen gesagt.

Im März 2023 kommt die kleine Familie in Deutschland an, verbringt ein paar Nächte bei dem Freund in Köln. Bochum ist die ihnen zugewiesene Stelle, wo sie den Asylantrag stellen. Zunächst, so Samira Jalilvand, werden sie für drei Monate in Mönchengladbach untergebracht, dann einen Monat in Wuppertal, und nun sind sie in Mechernich. Amirtaha geht zur Schule, spielt im Fußballverein. Er hat Freunde gefunden und spricht schon gut Deutsch. Wegen seiner Sprachkenntnisse und weil er sehen kann, ist er seinen Eltern eine große Hilfe.

Kaller Verein „Helfende Hände“ hilft

Doch die verzweifeln gerade an der deutschen Bürokratie. Das Warten zermürbt sie. „Für Behinderte“, sagt Mohammad Soleimani Khorasgani, „ist es viel schwieriger als für Normale.“ Eine Stütze ist der Familie die Freie Christengemeinde in Kall. Über eine Caritas-Mitarbeiterin ist der Kontakt zustande gekommen.

Und in der Gemeinde der Kontakt zu Petra Ulbrich vom Kaller Verein „Helfende Hände“. Sie unterstützt die Familie seit zwei Monaten. Sie kennt die Langwierigkeit von Asylverfahren, die Bürokratie. Doch im Fall der behinderten Menschen gestaltet sich alles noch schwieriger.

Mit Ärzten bisher keine guten Erfahrungen gemacht

Mit Ärzten haben sie bisher keine guten Erfahrungen gemacht – vor allem aufgrund der Sprachbarriere: Die Helfer, die die Familie begleitet haben, sind nicht akzeptiert worden, da es sich nicht um amtlich bestellte Dolmetscher handelt. Nicht einfacher ist die Sache mit den Integrations- und Deutschkursen. Die sind zwar vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) genehmigt, jedoch sollen die beiden an Kursen für Sehbehinderte teilnehmen.

Diese werden laut Ulbrich jedoch nur in Würzburg oder Hannover angeboten, in einem Internat – in das die Eheleute Sohn Amirtaha nicht mitnehmen dürften.

Aktuell ist der Aufenthalt der Familie bis Juli gestattet. In der Woche vor Ostern hat das Interview beim BAMF stattgefunden. Doch bis dessen Entscheidung über den Asylantrag vorliegt, vergeht nach Ulbrichs Erfahrung ein halbes bis ganzes Jahr. So lange will sie die Familie nicht warten lassen. „Es gibt Sonderregelungen. Aber die sind ganz schwierig zu bekommen“, sagt sie. Auf diesen schwierigen Weg will sie sich nun, auch gemeinsam mit der Caritas, machen. Sie hofft aber, dass es doch noch eine schnellere und unbürokratische Lösung gibt.

Ulbrich fasst zusammen, was die Familie braucht: Termine bei Ärzten (vor allem beim Augenarzt, aber auch beim Rheumatologen für den Ehemann), die Persisch sprechen oder private Helfer als Übersetzer akzeptieren. Durch die ärztlichen Atteste würde die Ausstellung des Schwerbehinderten-Ausweises möglich. Mit dem wiederum können Computer mit Unterstützungsprogrammen beschafft werden, die das Deutsch-Lernen deutlich erleichtern. Und eine Wohnung braucht die Familie: Seit acht Monaten leben die drei in einem Unterkunftszimmer, das zermürbt zusätzlich.

Was die Familie sich wünscht? „Endlich Deutsch sprechen“, sagt Samira Jalilvand. Ihr Mann ergänzt: „Es sind schwere Zeiten. Aber ich glaube, dass es gut wird. Dass wir bleiben dürfen, dass wir eine Arbeit und eine Wohnung finden. Und dass wir von vorne anfangen können.“


Freie Christengemeinde Kall hilft der Familie

Rund 30 Mitglieder zählt die Freie Christengemeinde Kall. Wie der Gemeinde-Älteste Georg Lorrig berichtet, kommen sie in erster Linie aus dem Raum Kall, Schleiden, Hellenthal und Mechernich. Etwa 40 Besucher, auch Nicht-Mitglieder, kommen regelmäßig zu den Gottesdiensten im Gebäudekomplex ehemaliger Eifeler Hof und ehemaliges Kino in Kall. Unter den Gottesdienstbesuchern sind laut Lorrig in der Regel etwa 25 Iraner und Afghanen.

Das Engagement für Geflüchtete reicht laut Lorrig rund 20 Jahre zurück und gründet auf einem Zufall: Auf seinem Heimweg habe er zwei Nigerianer mitgenommen, die mit Einkaufstaschen an der Landstraße gegangen seien. Sie kamen ins Gespräch, auf Englisch: Lorrig habe berichtet, dass er der Pfingstgemeinde in Kall angehöre – was die Nigerianer, ebenfalls Christen – sehr interessiert habe.

Zu dieser Zeit, so Lorrig, haben Geflüchtete erst nach ihrer Anerkennung Sprachunterricht erhalten. Und diese Lücke habe dann seine Frau Esther über viele Jahre gefüllt, indem sie ehrenamtlich Deutschunterricht erteilt habe.

Konfrontiert mit den Sorgen und auch den Bedürfnissen der Geflüchteten, reifte zudem der Entschluss, den Eifeler Hof, ehemals ein Hotel, zu kaufen und dort kleine Wohnungen zu schaffen: „Daran herrscht damals wie heute Mangel“, sagt Lorrig. Sieben Wohnungen haben sie eingerichtet, die meisten sind an Geflüchtete vermietet. Auch die Lorrigs leben heute in dem Komplex.

Wie finden gerade Iraner und Afghanen zur Kaller Gemeinde und zum Christentum? Ersteres über Kontakte, Zweiteres laut Lorrig in der Regel über das Prinzip des „gnädigen Gottes“, falls die Menschen nicht ohnehin wegen ihres christlichen Glaubens geflüchtet sind: „Davon haben viele vorher noch nichts gehört.“

Die Anfänge liegen auch hier rund 15 Jahre zurück: Wie Lorrig berichtet, diskutierten eine Familie aus dem Kongo (Christen) und dem Iran (Muslime) über ihren Glauben. Um besser argumentieren zu können, habe die iranische Frau, glühende Verehrerin des Islam, sich intensiv mit der Bibel auseinandergesetzt. Ihr Ziel sei gewesen, die Christen zum Islam zu bekehren. Stattdessen, so berichtet Lorrig schmunzelnd, sei sie durch das, was sie gelesen habe, selbst vom Christentum überzeugt worden und schließlich zur Gemeinde gestoßen.


Goalball

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Goalball zur Rehabilitation von blinden Kriegsversehrten entwickelt und ist seit 1976 paralympische Disziplin. Heute gilt es als die weltweit beliebteste Ballsportart für Menschen mit Sehbehinderungen. Gespielt wird mit dem 1,2 Kilo schweren „Klingelball“.

Durch das Glöckchen im Inneren nehmen die Athleten den bis zu 80 km/h schnellen Ball wahr. Drei Spieler je Mannschaft treten auf einem 9 mal 18 Meter großen Spielfeld an. Der Ball wird über den Boden geschleudert, abgewehrt werden darf er mit dem ganzen Körper vor dem Tor, das sich über die gesamte Spielfeldbreite erstreckt. Während des Spiels herrscht komplette Stille – gejubelt werden darf nur nach einem Tor. 

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