„Misstrauen und Angst“Opfer schildert Trauma nach Vergewaltigung mit K.O.-Tropfen

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Symbol Frau Kriminalitätsopfer

Das Trauma, das durch sexualisierte Gewalt entsteht, lässt sich nicht einfach abschütteln. Viele Betroffene leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und benötigen psychologische Hilfe. (Symbol)

Kreis Euskirchen – Es ist so, als ob man ihr Leben auf Links gedreht hat. Wie ein unachtsam ausgezogenes Kleidungsstück. Bis zum Sommer 2014 hatte Manuela Köhler (Name geändert) das Leben einer zufriedenen Ehefrau und Mutter dreier Kinder, einer stets gut gelaunten Angestellten im Einzelhandel, eines geselligen Mitglieds eines gewachsenen Freundeskreises. Doch all das gibt es nicht mehr.

Es ist Anfang Juli vor sechseinhalb Jahren. Manuela Köhler feiert mit einigen anderen Frauen in einer benachbarten Großstadt. Mit dem letzten Zug will sie zurück in die Heimat fahren. Die anderen Frauen entschließen sich weiterzuziehen. Bis zur Abfahrt des Zuges hat sie noch etwas Zeit und wartet vor den Türen des Bahnhofs. Dort kommt sie ins Gespräch mit einigen Männern. Man unterhält sich, lacht, schließlich wird ihr eine Flasche hingehalten, aus der sie einen kräftigen Schluck nimmt.

Tag des Kriminalitätsopfers

In jeder Minute

Alle acht Minuten wird ein Mensch in Deutschland Opfer von sexualisierter Gewalt. Das geht aus der Kriminalitätsstatistik der Polizei hervor, die für das Jahr 2019 knapp 70 000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bestätigt.

Dunkelziffer

Die Dunkelziffer liegt weitaus höher: Nicht einmal jede 15. Tat wird bei der Polizei angezeigt, das jedenfalls belegen Studien. Der Weiße Ring, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität, geht von bis zu einer Million Taten pro Jahr aus. Was bedeutet, dass nicht alle acht Minuten, sondern vermutlich in jeder einzelnen Minute des Tages ein Mensch in Deutschland Opfer von sexualisierter Gewalt wird.

Sexualisierte Gewalt

Sexualisierte Gewalt meint alle Formen von sexuellen Handlungen, die einer Person aufgedrängt oder aufgezwungen werden. Dazu gehören sexuelle Nötigung, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung oder sexueller Missbrauch. Sexualisierte Gewalt ist häufig Ausdruck eines emotionalen und wirtschaftlichen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Täter und Opfer.

Häufig Schweigen aus Scham

Oft schweigen Betroffene über das Erlebte – aus Angst, Unwissenheit, Scham oder auch aus falsch verstandener Loyalität, weil die meisten Taten innerhalb der Familie, des Freundes- oder Bekanntenkreises geschehen. „Sexualisierte Gewalt ist extrem schambehaftet und wird noch immer gesellschaftlich tabuisiert“, meint auch Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender des Weißen Rings.

Der Weiße Ring

Seit 1991 macht der Weiße Ring mit dem Tag der Kriminalitätsopfer auf Menschen aufmerksam, die durch Kriminalität und Gewalt geschädigt wurden. Er soll das Bewusstsein für Opferbelange in Deutschland stärken und Informationen zu Prävention, Schutz und praktischen Hilfen geben. (hn)

„Am nächsten Tag bin ich in einem Park wach geworden, neben mir saßen zwei Unbekannte. Ich konnte mich an nichts erinnern, merkte aber, dass ich keine Unterwäsche mehr anhatte“, sagt die heute 43-Jährige. „Mein erster Gedanke war: Ich fahre jetzt nach Hause und erzähle niemandem davon.“ Völlig orientierungslos sei sie herumgeirrt, habe sich in den falschen Zug gesetzt. Schließlich lässt sie sich von einem Verwandten abholen.

Zahlreiche weitere Spuren sprechen dafür, dass Manuela Köhler in der zurückliegenden Nacht unter Einwirkung von K.O.-Tropfen vergewaltigt worden ist. Letztlich erstattet sie doch Anzeige – lässt das gesamte Prozedere der körperlichen Untersuchung und der für sie peinlichen Befragungen über sich ergehen. „Eine sehr nette Polizistin sagte mir, ich solle mir bloß keine Schuld einreden. Das war eine der wenigen mitfühlenden Reaktionen, die ich für lange Zeit erfahren sollte.“ Was folgt, ist ein jahrelanger, kräftezehrender juristisch-bürokratischer Kampf, der fünf Aktenordner füllt und am Ende – aus Sicht des Opfers – ein einziges Desaster ist. „Das Verfahren wurde eingestellt, obwohl es etliche Hinweise auf die mutmaßlichen Täter gab“, sagt Manuela Köhler.

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Schnell habe sie gemerkt, dass sie das Erlebte nicht einfach abschütteln kann. „Zu Hause musste alles weiterlaufen, der Haushalt, die Kinder, dazu noch die Pflege der Schwiegermutter.“ Anfangs habe sie sich regelrecht in die Arbeit gestürzt: „Ich war froh, dass ich mich ablenken konnte.“

Aber irgendwann kam der Punkt, wo es zusehends schwieriger wurde, den Alltag zu meistern. „Es gab nur noch Misstrauen und Angst. Stand ich alleine im Laden, hatte ich alle Kunden panisch genau im Visier. Meinem Mann habe ich alles mögliche unterstellt, habe angefangen, ihn zu kontrollieren. Sexualität konnten wir nicht mehr leben. Plötzlich hatten wir Eheprobleme doppelt und dreifach.“ Seit der Tat, sagt sie, fühle sie sich nicht mehr wie eine richtige, vollständige Frau. Im März 2015 lässt sich die Kreisbürgerin wegen zunehmender psychischer Probleme in eine Klinik einweisen. Es folgen weitere Aufenthalte.

„Es ist besser, in eine Klinik zu gehen, als sich etwas anzutun.“

„Ich dachte erst, wer in so eine Klinik geht, muss völlig verrückt sein. Mittlerweile weiß ich, es ist besser, in eine Klinik zu gehen, als sich etwas anzutun.“

Manuela Köhler sagt, sie sei nicht mehr dieselbe Frau, die sie einmal war. „Ich bin misstrauisch geworden, kann nicht mehr locker auf andere zugehen, checke immer alles und jeden ab. Das sitzt fest.“

Ohne Pfefferspray verlässt sie nicht die Wohnung. Fährt sie Auto, verriegelt sie die Tür von innen. Hinzu kommen Depressionen, Schlafstörungen und körperliche Beschwerden. Arbeiten kann sie nicht mehr, die 43-Jährige ist vorläufig verrentet.

Trauma wurde in Frage gestellt

Seit vier Jahren macht Manuela Köhler eine Psychotherapie, die ihr nach eigener Einschätzung sehr gut tut. „Ich hätte mir gewünscht, mehr an die Hand genommen zu werden, mehr Hilfe zu bekommen. Vor allem aber hätte ich mir gewünscht, dass man mir das Gefühl gibt, mir zu glauben.“ Behörden und Institutionen hätten ihr dieses Gefühl häufig nicht gegeben – teilweise sei sogar in Frage gestellt worden, dass ein Vergewaltigungsopfer, das sich an die eigentliche Tat nicht erinnern kann, überhaupt eine posttraumatische Belastungsstörung ausbilden kann.

Ein Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wurde in erster Instanz abgelehnt. Die Entscheidung auf Grundlage einer neuerlichen Prüfung steht noch aus. „Ich habe nach all diesen Erfahrungen panische Angst, Briefe von Behörden zu öffnen. Ich rechne immer mit erneuter Ablehnung.“

Langjährige Freundschaften beendet

Manuela Köhler ist vor einiger Zeit ausgezogen. Ihre Ehe wurde nach fast 25 Jahren geschieden. Die Scheidung, sagt sie, sei ein bisschen wie eine Beerdigung gewesen. Die Bestattung ihres alten Lebens. „Früher war ich ein offener Mensch ohne Vorurteile gegenüber anderen. Das ist anders heute.“ Auch langjährige Freundschaften habe sie zum Teil beendet: „Viele wissen bis heute nicht, warum und was mit mir los ist. Das ist halt so eine Sache – ich schäme mich eben. Immer noch.“

Was würde sie anders machen, würde sie die Zeit zurückdrehen können bis zu dem schrecklichen Morgen im Park? Würde sie wieder Anzeige erstatten? „Auf jeden Fall. Und ich würde es auch jeder Frau in ähnlicher Situation raten“, sagt Manuela Köhler mit Bestimmtheit, denn kein Mann habe das Recht, sich an einer Frau zu vergreifen. Heutzutage aber würde sie in jedem Fall jemanden mitnehmen zu Untersuchungen, Vernehmungen oder Anwaltsgesprächen. „Eigentlich habe ich nämlich zwei Traumata erlitten. Die Vergewaltigung, und dass man mir so oft nicht zuhören und glauben wollte. Das ist einfach nur furchtbar.“

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