HoffnungZwei Wochen nach der Flut wollen die Gemünder Metzger-Zwillinge wieder öffnen

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Kämpfen sich durch: Die Metzgermeister Frank und Thomas Steffen (r.) aus Gemünd

Gemünd – Frank Steffen (51) hat die Katastrophe kommen sehen. „Das glaubt mir keiner. Aber ich habe das zwei Tage vorher geträumt. Ich habe gesehen, wie das Wasser die Straße runtergeschossen kam.“ Sechs Tage nach der Flut sitzt Frank mit seinem Zwillingsbruder Thomas am Küchentisch in der Wohnung in der ersten Etage über der Metzgerei. Die Wohnung war ihr Zuhause, als sie noch Kinder waren. Heute dient sie als Aufenthaltsraum für ihre zwölf Angestellten.

Wenn es in Gemünd einen Inbegriff für Tradition, Bodenständigkeit und Handwerksstolz gibt, ist es die Metzgerei Steffen. Vor 60 Jahren von Vater Julius (82) und Mutter Ursula (76) gegründet, mit viel Fleiß und Herzblut aufgebaut. „Sie hatten von unseren Großeltern zwei Schweine und eine Kuh als Startkapital“, sagt Thomas. „Mehr nicht.“

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Die Innenstadt von Gemünd war komplett überflutet.

Vor 15 Jahren haben Thomas und Frank den Betrieb übernommen. „Wir sind da reingewachsen. Die Frage, ob wir etwas anderes machen, hat sich nicht gestellt.“ Die Brüder lernen im elterlichen Betrieb, arbeiten als Gesellen, machen ihre Meisterprüfungen, bauen den Betrieb aus – Frank die Produktion, Thomas den Verkauf. Ihre Kunden kommen von weit her, aus Düsseldorf, aus Bonn, aus Köln. Metzger mit eigener Schlachtung, die wissen, woher die Tiere stammen, deren Fleisch sie verkaufen, sind in Großstädten selten geworden.

„Wir haben tolle Kunden und ein tolles Team“, sagt Thomas. „Wir kannten keine Existenzängste.“ In der Nacht zum 15. Juli hat sich das mit einem Schlag geändert. Es ist das erste Mal seit der Nacht, in der das Unheil über Gemünd hereinbrach, dass die Brüder gemeinsam am Küchentisch sitzen. Frank unterdrückt die Tränen. Er habe bisher keine Zeit gehabt. Nicht zum Nachdenken. Nicht einmal zum Weinen.

Frank: „Ich hatte am Mittwoch frei. Abends um halb acht haben wir uns in der Firma getroffen. Ich habe gesagt, wir müssen alles ausräumen. Mir war klar, hier kommt etwas ganz Schlimmes. Wir sind noch einmal durch unsere Straße bis zum Bach gegangen. Das Wasser stand an der Brücke nur noch 20 Zentimeter unterhalb der Fahrbahn. Uns war klar, wenn sich das anstaut, kommt es zu uns runter. Wir haben den Leuten zugerufen,» fahrt eure Autos aus den Garagen, gleich kommt die Flut«. Die haben mich für verrückt erklärt. Ich solle mich nicht so panisch anstellen. Selbst Thomas hat zu meiner Frau gesagt, nun beruhige Deinen Mann mal wieder, das wird schon nicht so schlimm. Dann haben wir beide begonnen, alles wegzutragen, was wir packen konnten.“

Thomas: „Wir haben die Frauen nach Hause geschickt, weil uns klar war, wenn der Bach über die Brücke schwappt, gibt es für uns kein Zurück mehr in unsere Häuser. Wir wohnen in Wolfgarten.“

Frank: „Wir haben im Laden angefangen, Konserven, Schinken, Kassensysteme, Waagen, Aufschnittmaschinen. Alles, was uns wichtig erschien. Das war um 21 Uhr. Wir haben bis zur allerletzten Sekunde gearbeitet. Um 23.10 Uhr ist die Kirchturmuhr stehengeblieben. Ich denke es war halb zwölf, als wir hinten aus der Produktion die letzten Sachen gerade noch so rausgezogen haben.“

Unwetterkatastrophe -1

Thomas Steffen hockt vor den zerstörten Resten der Metzgerei in der Fußgängerzone.

Thomas: „Das Haus hinter dem Betrieb gehört unseren Eltern. Da geht es gefühlt zwei Meter die Einfahrt rauf. Dorthin haben wir die großen und teuren Maschinen gebracht. Den Cutter zum Beispiel. Der wiegt eineinhalb Tonnen. Den haben wir mit vier Leuten diesen Hang hochgeschoben, mit einem Hubwagen. Wenn man dann sieht, mit welcher Geschwindigkeit diese Flutwelle kommt, das ist unvorstellbar. Mir hat es die Seele raus gerissen, als das Wasser unter der Ladentüre durchgekommen ist. Da wusste ich: Jetzt gibt es kein Halten mehr. Wir haben in der Produktion noch probiert, ein paar Lebensmittel zu retten. In einer Minute ist das Wasser mindestens 15 Zentimeter gestiegen.“

Frank: „Dann fiel der Strom aus. Wir hatten Stirnlampen und Gummistiefel, die 40 Zentimeter hoch sind. Deswegen konnten wir vielleicht noch drei Minuten länger bleiben. Der Geruch des Heizöls, das Schreien der Leute, das Bersten der Fensterscheiben, der eine ruft nach dem anderen: »Wo bist Du?« Wir hatten uns auch aus den Augen verloren.“

Thomas: „Die Ladenscheibe ist wie durch ein Wunder nicht kaputtgegangen.“

Frank: „Die Ladentüre ist bestimmt 40 Jahre alt. Sie hat unten einen breiten Lüftungsschlitz. Deshalb ist das Wasser draußen wie drinnen offenbar so gleichmäßig und schnell gestiegen, dass es wohl einen Druckausgleich gab.“

Thomas: „Es war stockdunkel. Wir haben nur noch gedacht, jetzt müssen wir ganz schnell weg hier. Der eine ist rechts zur Türe raus, der andere links. Dann dieses Tosen des Baches. Oben auf dem Parkplatz haben wir uns wiedergefunden. Der eine hat vom anderen geglaubt, er sei noch im Betrieb. Ich hatte Todesangst. Um mich und meinen Bruder. Wir wussten nicht, wie es bei unseren Familien ist.“

Frank: „Wir haben uns auf dem Parkplatz fünf Minuten nur in den Armen gehalten. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn Dein Lebenswerk auf einen Schlag durch Wasser zerstört wird.“

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Fünf Tage später. Das Wasser ist weg, der Schlamm auch, die Trümmer größtenteils beiseite geräumt. Die Fußgängerzone sieht gespenstisch aus. Vor dem Laden haben Frank und Thomas ein großes Schild aufgestellt. „Auch nach dieser Katastrophe: Wir sind wir bald 100 % wieder da.“

Am 4. August wollen die Brüder wieder aufmachen. Irgendwie. Auch wenn die Vorräte vernichtet sind. Das luftgetrocknete Rindfleisch, das 28 Tage am Knochen reifen muss. Die geräucherten Schinken, die drei Monate brauchen, ehe sie in den Verkauf kommen. Und das Equipment, das trotz der Rettungsaktion zu 70 Prozent zerstört ist.

Serie „Neuanfang“

In unserer Serie „Neuanfang“ porträtieren wir Menschen aus der Region, die nach der Flut von vorn beginnen. Die Porträtierten stehen stellvertretend für die vielen Betroffenen und für ein Versprechen der Redaktion: Wir werden die Flutopfer nicht vergessen, sondern auch mittel- und langfristig berichten.

Die Steffens haben keine Elementarversicherung . Die Betriebsausfallversicherung, die ihre Eltern vor knapp 50 Jahren abgeschlossen nie in Anspruch genommen haben, greift nicht. „Die beinhaltet alles“, sagt Thomas in einem Anflug von Sarkasmus. „Salmonellen, Noroviren, Feuer, Blitzeinschlag. Nur Covid und Wasser nicht.“ So werden die Brüder wohl auf den Lohnkosten für die Tage, an denen sie nicht arbeiten konnten, sitzenbleiben. Trotzdem wird es weitergehen. „Für mich war das nie eine Frage“, sagt Frank.

In den Tagen nach der Katastrophe habe er zum ersten Mal gespürt, „dass so viele Menschen so eng zusammenstehen können“, sagt Thomas. Vielleicht sei er früher auch zu distanziert gewesen. „Zu uns sind Kunden am Sonntag aus Belgien gekommen, um zu helfen. Fünf Leute aus Wuppertal am Montag. Die ganze Dorfgemeinschaft aus Wolfgarten. Da stand einer, der hat sich nur als Bernd aus Kalterherberg vorgestellt. Er hat mir gesagt: »Ich habe heute Morgen ein Leberwurstbrot gegessen. Das war die Leberwurst, die ich bei euch immer kaufe. Da habe ich zu meiner Frau gesagt. Ich lasse jetzt hier alles stehen und liegen und gehe denen helfen«.“

Das alles sei eine ungeheure Bestätigung und erfülle sie mit Stolz. „Wenn wir ganz schnell wieder öffnen, könnte das ein Signal sein“, sagt Thomas. „Und wenn wir mit der Fahne durch den Ort gehen müssen. Leute, guckt, es kommen wieder Kunden. Es geht weiter.“

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