HospizWo das Gefühl für Zeit verloren geht

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Sabine Sauer, Nicola Weny, Christine Luppus und Christine Poensgen nutzen auch die Frühstückspause, um sich untereinander auszutauschen. Bild: Tucholke

Sabine Sauer, Nicola Weny, Christine Luppus und Christine Poensgen nutzen auch die Frühstückspause, um sich untereinander auszutauschen. Bild: Tucholke

Euskirchen – Frau Lingscheid* sitzt mir gegenüber auf ihrem Krankenbett. Sie ist schon lange wach, obwohl es erst acht Uhr morgens ist. Seit ungefähr einer Woche lebt sie im Hospiz. „Aber man verliert hier das Gefühl für die Zeit.“ Fast automatisch möchte ich sie fragen, wann sie wohl wieder nach Hause gehen kann, als mir bewusst wird, dass es für sie keine Rückkehr geben wird. Plötzlich weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll, was wichtig genug ist, um es jemandem zu erzählen, der nicht mehr viel Zeit hat.

Beim gemeinsamen Frühstück erzählen mir Schwester Sabine Sauer, Schwester Christine Luppus und die Sozialarbeiterin Nicola Weny von ihren Erfahrungen im Hospiz-Alltag. Jede geht anders mit der Belastung um, die die Sterbebegleitung und die Gespräche mit den Angehörigen ihr abfordern. „Ich kann nicht immer die Tür zumachen und alles ablegen, was ich bei der Arbeit erlebt habe“, erzählt Christine Luppus. Immer wieder beschäftigt sie sich mit ihrer eigenen Endlichkeit. Sabine Sauer erlebt hin und wieder Zeiten, in denen sie eigentlich nichts mit dem Thema Tod zu tun haben möchte. „Zwischendurch würde ich gerne mal für drei Jahre in einem Beruf arbeiten, in dem die menschliche Nähe nicht so sehr gefragt ist.“

Trotzdem haben sich die beiden Frauen für die Arbeit im Hospiz entschieden. „Das Sterben ist hier wesentlich schöner, wenn man von schön sprechen kann“, sagt Hospizleiterin Christine Poensgen. Bevor sie das Hospiz der Stiftung Marien-Hospital vor zwei Jahren mit aufgebaut hat, war sie 30 Jahre lang auf der Intensivstation beschäftigt. Dort sei der Auftrag, die Menschen wieder gesund zu machen, deshalb sei der Tod im Krankenhaus fast ein störendes Ereignis. Dagegen empfinde sie es als angenehm, wenn in der Einrichtung an der alten Malzfabrik die Menschen Tag und Nacht behütet und begleitet und am Lebensende nicht mit ihren Nöten und Ängsten allein gelassen würden.

Jeder Mensch geht anders mit dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit um. „Das verklärte Bild, dass am Ende alles gut ist, gibt es nur im Film. Wer mit seinem Schicksal hadert, der tut dies auch noch am Schluss“, glaubt Schwester Sabine. Deshalb hält sie es für wichtig, dass jeder etwas findet, an dem er sich festhalten kann – ganz gleich, ob es der Glaube an Gott ist oder die Liebe zu einem Menschen.

Während die Betroffenen selbst merken, wenn es ihnen schlechter geht und sie viele Dinge nicht mehr selbstständig verrichten können, spüren die Angehörigen diese Veränderung häufig noch nicht und können die Situation deshalb noch schwerer mittragen. Aus diesem Grund sind die Gespräche mit den Angehörigen, die von Traurigkeit und Hilflosigkeit geprägt sind, für das Betreuer-Team oft belastender als die Begegnungen mit den Sterbenden. „Danach fühlt man sich so leer wie eine ausgepresste Zitrone“, versucht Sabine Sauer ihre Gefühle zu beschreiben. Für Bewohner und Angehörige, aber auch für das Personal wird im Hospiz Beistand durch Seelsorger oder psychoonkologische Betreuung angeboten. Außerdem können sich die Mitarbeiter bei den Teamsitzungen und in der monatlichen Supervision austauschen.

„Im Umgang mit den Bewohnern sollte man versuchen, professionell zu bleiben, dann ist auch die Versorgung am besten. Das ist aber natürlich nicht immer möglich, wir sind schließlich alle nur Menschen, und es gibt immer Fälle, die einen berühren und betroffen machen“, sagt die Hospizleiterin. Bei meiner Begegnung mit den Bewohnern des Hospizes überrollen mich kleine Gefühlswellen: Mitgefühl, Traurigkeit, Angst, aber auch Freude über ihre kleinen großen Erfolgserlebnisse. Frau Lingscheid leidet an Brustkrebs. Im Hospiz hat sie sich häuslich eingerichtet mit dem großen Ohrensessel und ihren Kuschelkissen. In bunten Farben leuchten frische Blumen in den Vasen, die sie im Zimmer verteilt hat. Einige Zimmer weiter treffe ich Herrn Schulz*. Der 83-Jährige kämpft einen ungleichen Kampf gegen den Prostatakrebs, der inzwischen Metastasen gebildet hat. Obwohl er bettlägerig ist, nimmt er gerne an der Gemeinschaft im Hospiz teil. Besonders dann, wenn an Sonntagnachmittagen ein ehrenamtlicher Pianist spielt.

Viele der Menschen, die ihren letzten Weg im Hospiz antreten, haben eine ganze Reihe von Therapien hinter sich. „Wir sehen hier nur die Menschen, bei denen es nicht geklappt hat“, erklärt Schwester Sabine, die sich schon mal dabei ertappt, wie sie mit einer veränderten Sichtweise auf das Leben blickt. „Dass man mit manchen Krankheiten auch noch viele Jahre leben kann, kommt mir manchmal gar nicht in den Sinn.“

Aus diesem Grund legen die Mitarbeiter im Hospiz viel Wert darauf, sich in ihrem privaten Leben einen Ausgleich zu schaffen. Christine Luppus ist froh, dass sie nur eine halbe Stelle hat, denn die Arbeit „geht an die Substanz“. So führe sie heute ein bewussteres Leben, nehme sich mehr Zeit für die wichtigen Dinge. „Ich achte darauf, nichts auf die lange Bank zu schieben“, erzählt auch Sabine Sauer. „Die Grenze zwischen hier und da ist sehr schmal. Wenn ich heute hier sitze, kann ich schon morgen in diesem Bett liegen.“

Ein Tag im Hospiz ist nicht planbar. Im Mittelpunkt steht vielmehr die individuelle Betreuung entsprechend den Gewohnheiten und der Tagesform des Betroffenen. Frühes Wecken gibt es im Hospiz nicht, jeder darf so lange schlafen, wie er möchte. Danach werden die Bewohner versorgt, wobei man ihnen die Gelegenheit gibt, möglichst viel noch selbst zu verrichten. Angehörige können zu jeder Tages- und Nachtzeit im Hospiz ein- und ausgehen, feste Besuchszeiten gibt es nicht. Stattdessen können nahestehende Personen sogar mit im Zimmer übernachten. „Einige der Angehörigen gehen nur mal zwischendurch nach Hause, um die Wäsche zu machen“, weiß Christine Poensgen.

Zusammen mit der Hospizleiterin besuche ich Herrn Schulz in seinem Zimmer, das mit Fotografien seiner Familie geschmückt ist. Der CD-Player spielt leise Musik, während er rasiert wird – das Zähneputzen macht er lieber alleine. Mit seinem Bett fahren ihn die Schwestern in den großzügigen Aufenthaltsraum.

Ermuntert von den Damen, greift Herr Schulz zur Mundharmonika, und muntere Volkslieder erfüllen den Raum. Stolz blickt er zwischen den Stücken zu den klatschenden Schwestern, denn heute hat er endlich wieder genug Puste zum Musizieren. „In meinem nächsten Nachtdienst bringe ich Ihnen mal mein Akkordeon mit“, verspricht Schwester Sabine. Sie hat heute eine ganz andere Definition von Erfolg und Glücksmomenten: „Wenn die Menschen ihr Leben so, wie es ist, akzeptieren und ihren Frieden damit machen können.“

Herr Schulz ist nach langer Krankheit inzwischen verstorben.

*Namen geändert

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