Flucht aus dem OstenAngebliche Hochzeitsreise führte in den Westen
Zülpich-Wichterich – Sommer 1989: In der DDR haben die großen Ferien begonnen, zahlreiche Menschen brechen auf in Richtung Ungarn und Rumänien, wo sie ihre Ferien verbringen wollen. Manche aber haben auch ein anderes Ziel: Österreich und von dort aus in die Bundesrepublik. Im Frühjahr hatte Ungarn begonnen, seine Grenzanlagen abzubauen. Die Gerüchte von erfolgreichen Fluchten in den Westen führen dazu, das besonders viele DDR-Bürger in diesem Sommer ein Urlaubsvisum für Ungarn beantragen. In der ungarischen Hauptstadt Budapest füllt sich parallel dazu die Botschaft der Bundesrepublik mit immer mehr DDR-Bürgern, die ausreisen wollen.
Von alledem erfahren auch Axel Hering (19) und seine Freundin Anja (18), die schon länger mit ihrem Land gebrochen haben und ausreisen wollen. Ihr Plan ist es, zu heiraten und die anschließende Hochzeitsreise nach Rumänien zur Flucht zu nutzen. „Am Mittwoch, 6. September, haben wir geheiratet, freitags haben wir unsere Dokumente abgeholt und dabei überrascht festgestellt, dass unser Reisevisum bereits da ist. Als wir sonntags dann in den West-Nachrichten erfuhren, dass Ungarn am 11. September für einen Tag seine Grenzen öffnen will, um das Flüchtlingsproblem zu lösen, sind wir Hals über Kopf los, um den Zug in Richtung Ungarn zu nehmen“, erinnert sich Axel Hering heute. Das Gute ist: Anja und Axel haben echtes Reisegepäck, „nicht nur eine Plastiktüte, wie viele andere, die spontan über Ungarn abhauen wollten“. Denn: „Wer nach Rumänien reiste, musste wirklich alles mitnehmen, auch Nahrungsmittel.“ Der Bahnhof in Leipzig ist voll mit Vopos und Stasileuten, die alle Personen herausfischen, denen man die Urlaubspläne nicht abnimmt oder die sich irgendwie verdächtig machen.
Beruhigungspillen gegen die Aufregung
Über 17 Stunden ist der Zug unterwegs, es geht über Bratislava und Prag in Richtung Budapest. In der damaligen Tschecheslowakei, an der Grenze zu Ungarn, wird der Zug angehalten, von Soldaten mit Hunden umstellt und komplett durchsucht. „Meine Frau hatte Beruhigungspillen genommen, um das alles durchzustehen“, so Hering. Endlich in Budapest angekommen, stürzt das junge Paar in ein Taxi und lässt sich zur Zugliget-Kirche bringen, wo österreichische Malteser ein Zeltlager errichtet haben für Hunderte von Flüchtlinge aus Ostdeutschland.
Dort erfahren die Frischvermählten, dass Ungarn seine Grenzen nun komplett geöffnet hat. Bereits am nächsten Tag, so verspricht man den beiden, werde man sie mit einem Bus nach Österreich bringen. „Wir hatten Angst bis zum letzten Augenblick“, sagt Axel Hering. „Unsere Familien ahnten auch in den folgenden zwei Wochen nichts von alledem. Sie dachten, wir sind auf Hochzeitsreise.“ Die Angst vor den möglichen Konsequenzen für die Angehörigen, nagte an dem jungen Paar. Wer Wind von geplanter Republikflucht bekam, war verpflichtet, dies zu melden, ansonsten drohten rund drei Jahre Zuchthaus. Hering: „Damals haben wir wirklich geglaubt, wir sehen unsere Familien die nächsten 25 Jahre nicht wieder.“ Als sie wohlbehalten in der Bundesrepublik eintreffen, dürfen Anja und Axel Hering entscheiden, in welches Bundesland sie wollen: „Wir entschieden uns für Nordrhein-Westfalen, weil ein Onkel in Bergheim lebt“, so der heute 44-jährige Axel Hering. Einen Monat bleiben sie bei dem Verwandten. „Wir sagten uns, da, wo es zuerst mit einer Wohnung oder einem Job klappt, werden wir unseren Neustart machen.“
Anja Hering nimmt Kontakt zu einer alten Brieffreundin auf, die in Olef lebt. „Eine Klassenkameradin hatte seinerzeit über einen West-Radiosender Brieffreunde gesucht. Es kamen so viele Antworten, dass sie einen Großteil der Briefe in der Klasse verteilte. So kam meine Frau zu einer Freundin in der Eifel“, erklärt Axel Hering. Die Freundin, Sandra Groß, und ihre gesamte Familie werden sofort aktiv, nachdem sie erfahren, dass Anja und Axel in der Nähe sind. „Familie Groß hat sich rührend um uns gekümmert“, schwärmt Hering. Das Paar bezieht eine Wohnung in Blumenthal, Axel, der Betriebsschlosser gelernt hat, erhält einen Job in der Glashütte Schleiden. „Wir waren die ersten Ostdeutschen in der Eifel, die über Ungarn geflüchtet sind. Sogar der Bürgermeister wollte uns persönlich begrüßen“, lacht Hering. Rückblickend sagt der 44-Jährige, sei die Eifel genau das Richtige für den Neustart gewesen. Man habe viele Freunde gefunden.
Im Juli dieses Jahres tauchen Axel und Anja Hering, die mittlerweile in Zülpich-Wichterich leben und eine zwölfjährige Tochter haben, noch einmal ein in diesen Teil ihrer gemeinsamen Vergangenheit: Sie machen Urlaub am Balaton und einen Abstecher nach Budapest. Nicht nur an der Zugliget-Kirche wird das Paar mit den aufwühlenden Erinnerungen an die Flucht vor 25 Jahren konfrontiert. Der Zufall will es, dass plötzlich Malteser-Mitarbeiter auftauchen, die sich am gleichen Ort für ein Interview mit der FAZ verabredet haben. Es sind Helfer aus dem damaligen Lager, mit denen die Herings nun Erinnerungen austauschen und bei denen sie sich dort, am Ort des Geschehens und 25 Jahre später, herzlich für alles bedanken können.