NachrufFlutopfer Johanna Orth war frei, verliebt und voller Pläne

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Konditor-Meisterin Johanna Orth guckt in die Kamera. Sie starb bei der Flut im Jahr 2021.

Konditor-Meisterin Johanna Orth starb mit 22 Jahren, als die Flut im Juli 2021 Teile von Bad Neuenahr zerstörte.

Bad Neuenahr. Wie sie sich verwandelt hatte! Als sei da ein anderer Mensch. Die Scheu war weg. Ihre Stimme klang nicht mehr brüchig, sondern fest. Sprüche konterte sie frech, hielt Blicken lässig stand. In einem Bewerbungsvideo für die Fernsehsendung „Das große Backen“ ist eine selbstbewusste junge Frau zu sehen, die ganz bei sich ist, witzig und charmant. „So hätten wir uns Jojo noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können“, sagt ihre Mutter.

Mit 22 hatte Johanna Orth Ängste überwunden, die sie begleiteten, seit sie neun Jahre zuvor auf dem Gymnasium zum Ziel einer Mobbingattacke geworden war. Verleumdungen und Spott von Mitschülerinnen hatten sie noch schlecht schlafen lassen, als sie längst eine andere Schule besuchte. Zu Hause fühlte sie sich geborgen. Ihr Vertrauen in die Welt aber war erschüttert. Manchmal, sagen die Eltern, schien ihre Tochter körperlich da zu sein und sonst bei ihrer Angst.

Pläne für eigene Patisserie und eigenes Café

Jetzt hatte Johanna Orth einen neuen Freund. Eine große Liebe. Sie hatte ihre Meisterprüfung zur Konditorin bestanden und einen Vertrag in der Patisserie einer Zwei-Sterne-Küche in Andernach unterschrieben. Sie hatte Kontakt zum französischen Star-Konditor Amaury Guichon aufgenommen, den sie in Las Vegas besuchen wollte.

Nebenher einen Businessplan für ein eigenes Café in Bad Neuenahr geschrieben, ihren großen Traum, den schon ihre Oma geträumt hatte.

Heimatverbunden an der Ahr

Selbst gemachte Törtchen, Pralinés und Plätzchen, jedes einzelne ein kleines Kunstwerk, wollte Johanna Orth in einem Laden an der Ahr verkaufen, den Raum hatte sie schon besichtigt. Aus der kleinen Patisserie könnte in ein paar Jahren ihr Café erwachsen. Sie wollte nicht nach Düsseldorf oder München, obwohl ihr Talent das ermöglicht hätte. Lieber wollte sie in ihrer Heimatstadt bleiben.

Johanna Orth

Johanna Orth

Johanna Orth, die nie allein leben wollte, weil sie glaubte, nicht allein sein zu können, hatte im Frühjahr eine eigene Erdgeschosswohnung in Bad Neuenahr bezogen, die sie mit ihren Katzen Leo und June teilte. „Nach einem steinigen Weg und harter Arbeit hatte Jojo sich ihre innere Freiheit erkämpft“, sagt ihre Mutter Inka. Sie genoss die kleinen Augenblicke und schmiedete große Pläne. Sie fühlte sich frei.

Starkregen hatte aufgehört

Am Mittwoch, 14. Juli, fliegen die Eltern vormittags nach Mallorca. Der Starkregen der vergangenen Tage hat die Ahr leicht anschwellen lassen, jetzt hat es aufgehört, die Lage scheint sich zu beruhigen. Am Nachmittag lesen die Eltern erste Hochwassermeldungen aus Altenahr.

Sie rufen ihre Tochter an und bitten sie, am Nachmittag in der Seniorenresidenz Villa Sibilla vorbeizufahren, um dort nach dem Rechten zu schauen. Ralph Orth ist Geschäftsführer des Hauses. Johanna gibt später durch, dass alles in Ordnung sei.

Fatale Fehleinschätzung der Lage

Um 16.43 Uhr gibt das rheinland-pfälzische Klimaschutzministerium eine Meldung heraus, in der die Ministerin Anne Spiegel zitiert wird: „Wir nehmen die Lage ernst, auch wenn kein Extremhochwasser droht.“ In der Stadt rechnet kaum jemand mit einer Flut – während Altenahr Hochwasser seit Jahrhunderten gewöhnt ist, blieb Bad Neuenahr seit mehr als 100 Jahren weitgehend verschont.

„Um 16.20 Uhr hat die Bürgermeisterin von Altenahr im Landratsamt angerufen, gebeten den Katastrophenfall auszurufen und die Häuser am Fluss zu evakuieren“, sagt Ralph Orth. „Es wären mehr als sechs Stunden Zeit gewesen. Unglaublich viel Zeit. Im Nachhinein war es eine fatale Fehleinschätzung, nicht zu evakuieren.“

Letztes Video um 20.15 Uhr

Um 20.15 Uhr schickt Johanna per Whatsapp ein Video an ihre Eltern. In dem aus ihrer Wohnung gefilmten Clip hört man die Stimme eines Mannes, der über Megafon ruft: „Achtung, hier spricht die Feuerwehr. An der Ahr ist die Hochwassergefahr sehr hoch. Innerhalb der nächsten 24 Stunden ist mit Überflutungen, Stromausfall und Verkehrsbehinderungen zu rechnen. Halten Sie sich möglichst nicht in Kellern, Tiefgaragen und tieferliegendem Gelände auf.“ Johanna lebt im Erdgeschoss und wähnt sich sicher.

Johanna Orth

Johanna Orth

Am Abend telefonieren Inka und Ralph Orth mit einem Mitarbeiter ihres Vereins Bunter Kreis Rheinland, der sich um schwerkranke Kinder kümmert, und bitten ihn, wertvolle Sachen aus dem Keller des Vereinshauses zu holen. Gegen 20 Uhr Uhr schickt ein Bekannter Fotos von der Ahr – sie fließt noch harmlos in ihrem Bett.

Ein Anruf, der nach 34 Sekunden abbricht

Um 23.09 Uhr löst der Krisenstab für den Ort die höchste Alarmstufe aus. Häuser im Abstand von 50 Metern Entfernung zur Ahr sollen evakuiert werden. Viele Häuser stehen da schon unter Wasser. Das Erdgeschoss der Seniorenresidenz Villa Sibilla wird um 23.50 Uhr evakuiert – buchstäblich in letzter Minute. Um 0.10 Uhr ruft Johanna ihre Eltern an. Ihre Stimme zittert. Sie sagt etwas wie: „Wasser, überall ist Wasser, alles schwimmt, die Möbel wackeln, der Schminktisch fällt um.“ Ihr Vater versucht, sie zu beruhigen, stellt Fragen. Nach 34 Sekunden bricht die Mobilfunkverbindung ab.

Die Eltern bitten einen Bekannten, Johanna irgendwie aus ihrer Wohnung zu holen. Aber wie? Wie ein Tsunami toben die Fluten durch die Stadt. Der Bekannte sagt, es gibt keine Chance, das Wasser sei überall, es reiße alles mit.

Zwei Tage vergeblich gehofft

Am nächsten Morgen ist der Pegel etwas gesunken, die Flut hat sich beruhigt. Mit einem Boot fährt die Feuerwehr durch die Straßen, Johanna Orth ist nicht in ihrer Wohnung. „Wir haben gehofft, dass sie noch irgendwie rausgekommen ist“, sagt ihr Vater. Die Eltern schalten eine Vermisstenmeldung, rufen in Krankenhäusern an. Fragen jeden, der sie gesehen haben könnte.

73 Menschen sterben in Bad Neuenahr durch die Flut. Jeder kennt Nachbarn, Freundinnen, Verwandte, die das Wasser mitgerissen hat. So viele Menschen sind traumatisiert. Nicht wenige wollen ihre Häuser und Wohnungen nicht wieder aufbauen. Bad Neuenahr ist das Epizentrum der Jahrhundertkatastrophe.

Der Leichnam von Johanna Orth wird zwei Tage nach der Flut in der Tiefgarage unter ihrer Wohnung gefunden.

Momentaufnahmen, die bleiben

Die Polizei findet noch ein bisschen Schmuck und, fast unversehrt, ihr Handy. Alles andere hat der Schlamm verschluckt.

Johanna Orth

Johanna Orth

Kein Wasser kann die Bilder und Erinnerungen wegspülen, Geschichten der Sehnsucht, die bei einem jungen Menschen besonders lebendig bleiben. Jeder behält seine eigenen Momentaufnahmen. Gespräche,  Berührungen, Szenen, Bilder. Bei Familie Orth kommen Hunderte Kalenderfotos dazu. Seit Johanna fünf war, hatte eine Kölner Fotografin mit Mutter Inka jedes Jahr einen Kalender mit Porträts von Johanna als Weihnachtsgeschenk für den Vater gestaltet: Sie zeigen Johanna im Weinberg und Johanna an der Ahr, Johanna auf einer Schaukel, inmitten von Blumen, auf einer Baustelle, vor dem Casino, auf Wiesen, am Meer; Johanna als Ballerina, Konditorin, Model und Katzenliebhaberin. Johanna als schüchternes Mädchen und Johanna als selbstbewusste Frau.

Sie hatte es geschafft, glücklich zu sein

Johanna Orth war ein sensibler Mensch mit festem Willen, der die Missgunst anderer und eigene Zweifel überwand, so sagen es die Eltern. Eine Kreative, die schon als Teenager Torten buk und Kleider nähte – und als Konditorin längst Meisterwerke schuf. Ein Kind, das Harmonie suchte, und ihren Eltern bis zuletzt jeden Tag ihre Liebe versicherte. Träumerin mit Bodenhaftung. Karrierefrau und Kumpeltyp. 100-prozentiger Familienmensch und Menschenfreundin. Für ihre Eltern, ihren Bruder Max, ihren neuen Freund und die beste Freundin war sie: ein Engel.

Als zuverlässig, selbstlos, introvertiert und tolerant, ehrgeizig, diszipliniert und zielstrebig beschreiben sie ihre Eltern. „Jetzt stand sie im Zenit. Sie war angekommen“, sagt ihre Mutter. Man darf sich Johanna Orth als glücklichen Menschen vorstellen.

Dieser Text ist erstmals am 4. Oktober 2021 veröffentlicht worden. Die Redaktion erinnert zum zweiten Jahrestag der Flut noch einmal an die Opfer.

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