Glashütte RheinkristallBleikristall aus den Sandbergen

Stadtarchivar Thorsten Schulz-Walden mit Glasentwürfen des Mailänder Ateliers Eigenio Bianchi aus den 50er Jahren.
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Leichlingen – So zerbrechlich war noch keine Ausstellung, die Stadtarchivar Thorsten Schulz-Walden im Rathaus aufgebaut hat. Sie besteht komplett aus Glas: Vasen, Kelche, Serviettenringe, Likörschalen und Trinkgläser sind jetzt in einer Vitrine im Foyer des Eingangs zum Ratssaal zu sehen. Auch der dicke Briefbeschwerer sollte tunlichst nicht umfallen, sonst läge ein kostbares Stück Stadtgeschichte in Scherben. Bei den Designobjekten handelt es sich um Produkte aus der einstigen Leichlinger Glashütte, die von 1948 bis 1964 am Fuß der Sandberge in Betrieb war.
Das Archiv bemüht sich, noch verfügbare Schätze aus der örtlichen Manufaktur zu retten. Denn sie zeugen von einem spannenden Kapitel der Leichlinger Industriegeschichte, das fast in Vergessenheit geraten ist. In vielen alten Haushalten schlummern noch Stücke von damals. Oft unbeachtet. Auf Anhieb zu erkennen sind sie nur, wenn das Firmensiegel, gold-schwarze Aufkleber mit dem Markennamen „Rheinkristall“, nie abgelöst wurde.
Im Internet-Auktionshaus Ebay taucht regelmäßig solche Glasware aus Leichlingen auf. Zu respektablen Preisen, denn die örtliche Produktion gilt bei Kennern und Sammlern als hochwertig. Aktuell sind bei Ebay drei Stücke im Angebot, darunter eine grüne Schmuckvase mit eingeschmolzenen Luftblasen für 39 Euro und ein Set Designer-Serviettenringe, für die 28 Euro verlangt werden. Aus Auktionen stammen auch die jetzt im Rathaus ausgestellten Stücke. Sammler wie Gerhard Wisotzky und Bürgermeister Ernst Müller ersteigern sie, wenn sie irgendwo auftauchen, und haben sie für die kleine Schau zur Verfügung gestellt.
Wo sie vor einem halben Jahrhundert entstanden sind, wissen die wenigsten. An die Geschichte erinnert erst seit 2006 wieder ein Straßenname: Die kleine Zufahrt, die am Stockberg, neben der Brücke über die Bahnstrecke, zu der verlassenen Fabrikhalle an der Langenfelder Stadtgrenze hinab führt, heißt seitdem „An der Glashütte“. Hier, mit Gleisanschluss und nah am Sand gebaut, der für die Herstellung gebraucht wurde, standen die Schmelzöfen, bewiesen die Glasbläser ihre Kunstfertigkeit, wurde geschliffen und graviert. Später war hier die inzwischen stillgelegte Metallfabrik Monteferro untergebracht.
Das Stadtarchiv erzählt die Historie der Glashütte in der kleinen Ausstellung auch anhand von alten Luftaufnahmen und Werksfotos, Texten und Werbebroschüren sowie – und es ist fast ein Wunder, dass es sie noch gibt – anhand von originalen Skizzenbüchern, Dekorzeichnungen und Design-Entwürfen der Meister von damals. Wie gut, dass sie jemand aufbewahrt hat.
Es waren vor allem Glasmacher aus traditionellen Gegenden dieses Handwerks, Kriegsflüchtlinge aus Böhmen und Schlesien, die der am 13. Oktober 1948 gegründeten „Glasfabrik Rhein-Kristall Leichlingen GmbH“ Leben einhauchten. „Zeitweise besteht sogar der Plan, für die 220 Betriebsangehörigen und ihre Familien ein eigenes böhmisches Dorf am Stadtrand als Werkssiedlung zu errichten“, hat Schulz-Walden erforscht. Einige Arbeiterhäuser sind am Standort heute noch zu sehen. Schon 1951 musste das Werk wegen der großen Nachfrage erweitert werden. 1958 wurde die renommierte Manufaktur mit der süddeutschen „Gral-Glashütte“ aus Dürnau verschmolzen. Um 1960 erreichte die Leichlinger Glaskunst ihren Zenit. Viele prominente Designer und Künstler wie Cuno Fischer und Hans-Theo Baumann oder das Mailänder Atelier Eigenio Bianchi entwarfen Arbeiten für die Hütte. Eine flache Rheinkristall-Schale von Baumann aus dem Jahre 1962 gilt unter der Typenbezeichnung RD 3726 heute sogar als Design-Klassiker und wird vom Kunsthandel für 68 Euro angeboten.
Trotz ihres in Fachkreisen guten Rufes wurde die Produktion aber 1964 stillgelegt und komplett ins Stammwerk nach Baden-Württemberg verlegt.
Die gläserne Vitrine im Rathaus-Eingang ist ein fast zu bescheidener Versuch, an dieses Kapitel der lokalen Wirtschaftsgeschichte zu erinnern. Aber sie ist als Dauer- und Wechselausstellung konzipiert und kann und soll ausgebaut werden – wenn weitere Fundstücke ersteigert werden oder aus Wohnzimmerschränken auftauchen.
Das Stadtarchiv ist an Glasobjekten aus der Manufaktur Rheinkristall interessiert. Wer Produkte der Leichlinger Hütte besitzt oder entdeckt, langfristig sichern oder für die Sammlung zur Verfügung stellen möchte, kann sich unter ☎ 02175 / 99 23 85 melden.