Kseniias Tagebuch„Charkiw zu verlassen, war die schwerste Entscheidung“

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Kseniia Balabanova schreibt als Autorin für den Kölner Stadt-Anzeiger über ihre Flucht aus Charkiw und ihr Ankommen in Leichlingen.

  • Kseniia Balabanova (29) kommt aus der ukrainischen Stadt Charkiw, die seit Kriegsbeginn ein Zentrum der Angriffe ist. Sie arbeitete als Psychologin und als Dozentin – und betrieb auch ein eigenes Tanzstudio.
  • Auf ihrer Flucht vor dem Krieg landete sie in Leichlingen und schreibt nun für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ darüber, was sie in Deutschland erlebt und was sie über den Krieg denkt.
  • In loser Reihenfolge veröffentlichen wir in den kommenden Wochen ihre Gedanken und Berichte.

Leichlingen – Der Krieg begann für mich mit einem Telefonanruf. Am Tag zuvor, am 23. Februar, hatte ich sechs Tanzklassen und war so müde, dass ich tief geschlafen habe, bis um 4 Uhr mein Handy klingelte: „Kseniia, bist Du ok?“, fragte eine Freundin. „Ja, warum?“, fragte ich zurück. „Sie bombardieren uns!“. Und da hörte ich es auch. Mein erster Gedanke war: „Das ist nicht echt.“

Aber ich fing auf Autopilot an, Wasser und Vorräte zusammen zu sammeln, packte eine Notfalltasche und als die Explosionen näher kamen, ging ich mit meiner Mutter in die nächste U-Bahn-Station. Später entschieden wir, zu Freunden ins Stadtzentrum zu ziehen, wo es sicherer schien, als bei uns.

Kseniia

Bild aus besseren Zeiten: Kseniia Balabanova tanzt auf den Straßen im Zentrum von Charkiw.

Die nächsten Tage bestanden aus ständigen Fluchten in die Bombenkeller, die Nächte aus Fragmenten an Schlaf und Whatsapp-Kommunikation. Tatsächlich gewöhnt man sich an die Geräusche der Bomben und lernt sogar, die Art der Waffen und Entfernungen zu unterscheiden. Man gewöhnt sich aber nie an die Angst um die Liebsten. Ich war – und bin – im ständigen Kontakt mit meinen Freunden in Charkiw und Kiew. Zu Beginn habe ich alle 20 Minuten geschrieben: „Bist du ok?“. Ein „Ja“ bringt nur eine kurze Erleichterung, schließlich kann in der nächsten Minute alles anders sein.

Die Autorin

Kseniia Balabanova (29) kommt aus der ukrainischen Stadt Charkiw, die nahe der russischen Grenze liegt und seit Kriegsbeginn ein Zentrum der Angriffe ist. Sie hat drei Master-Abschlüsse, arbeitete als Psychologin und als Dozentin an der nationalen Universität für Luft- und Raumfahrt. Ihre Leidenschaft ist das Tanzen – sie betrieb auch ein eigenes Tanzstudio in Charkiw.

Auf ihrer Flucht vor dem Krieg landete sie in Leichlingen und schreibt fortan für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ darüber, was sie in Deutschland erlebt und was sie über den Krieg denkt. 

Das Wort „Krieg“ habe ich mehrere Tage lang nicht in meinen Kopf bekommen. Es passte nicht in meine Welt, es war etwas, was ich aus Filmen kannte, aber nichts, was im Jahr 2022 ohne einen Grund passiert. An einem Tag weigerte sich meine Mutter, bei Sirenenalarm in den Bunker zu gehen, sie war zu müde. Da weinte ich zum ersten Mal seit Kriegsbeginn. Vor Hilflosigkeit und Angst um sie. Man gewöhnt sich daran, alles schnell zu machen: Essen, schlafen, duschen – immer in Bereitschaft, aufzuspringen und loszurennen. Aber man gewöhnt sich nicht an die Angst um die Geliebten.

Mit Worten kämpfen

Seit dem ersten Tag des Kriegs habe ich mich als ehrenamtliche Psychologin engagiert. Ich weiß nicht, wie man eine Waffe benutzt oder einen Panzer fährt, aber ich weiß, wie man Menschen helfen kann, da durch zu kommen. Das ist der Kampf, den ich kämpfen kann.

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Angekommen in Leichlingen

Ich habe es getan, mit Tränen in den Augen und einer furchtbaren Leere in meiner Seele. Nach fünf Tagen Reise per Zug, Auto und Bus bin ich in Leichlingen angekommen. Ich bin froh, hier zu sein. Aber ich weiß auch: Sobald es geht, will ich zurück in meine Heimat.

Folge Eins: übersetzt von Stefanie Schmidt; weitere Artikel von Kseniia Balabanova folgen

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