Kseniias Tagebuch in Leichlingen Teil 4„Charkiw ist nicht tot, das Leben geht weiter“

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Bleibt über das Handy auch aus Leichlingen immer in Kontakt mit ihren Bekannte in Charkiw: Kseniia Balabanova. 

  • Kseniia Balabanova (29) kommt aus der ukrainischen Stadt Charkiw, die seit Kriegsbeginn ein Zentrum der Angriffe ist.
  • Auf ihrer Flucht vor dem Krieg landete sie in Leichlingen und schreibt nun für den „Kölner Stadt-Anzeiger“.
  • Im vierten Teil der Serie beschreibt sie, wie es den Menschen in ihrer Heimatstadt geht: Es wird geheiratet, gepflanzt, tätowiert – trotz des Krieges

Leichlingen – Es gibt niemanden hier in Leichlingen, der nichts über den Krieg in der Ukraine weiß. Und viele Menschen kennen auch die Namen unserer Städte. Wenn ich jetzt sage, dass ich aus Charkiw komme, ist die Reaktion immer die Gleiche: „Oh mein Gott“ oder „Es tut mir so leid“. Egal, ob ich mit Deutschen oder mit Ukrainern spreche. Die Menschen wissen, dass es schlimmer als in Charkiw nur in Mariupol ist.

Furchtbare Bilder

Ich möchte heute erzählen, was ich aus meiner Heimat höre. Wenn man die furchtbaren Bilder im Fernsehen sieht, könnte man meinen, Charkiw sei tot. Doch das stimmt nicht.

Nur 40 Kilometer liegen zwischen Charkiw und „russland“. Das ist kein Tippfehler, alle Ukrainer schreiben den Landesnamen nur noch in kleinen Buchstaben. Und diejenigen, die den Krieg unterstützen, nennen wir „raschist“ (wie Faschist mit „r“). Sie bombardieren meine Stadt seit dem 24. Februar. Ich war in einem Haus, das nur einen zehnminütigen Fußweg vom „Freedom Square“ (Freiheitsplatz) entfernt war, als in genau diesem Herz der Stadt eine Bombe eingeschlagen ist. Ich konnte den Einschlag nicht nur hören, sondern auch fühlen. Das war ein harter Schlag für jeden Einwohner von Charkiw.

Studenten weinen um ihre Universität

Meine Freunde auf der ganzen Welt haben geweint, als sie gesehen haben, wie ihre Universitäten zerstört wurden. Charkiw ist (ich kann nicht „war“ schreiben), die Studentenstadt der Ukraine und jedes Jahr kamen auch Hunderte von Ausländern, um hier zu studieren. Es gibt Stadtbezirke, die so stark zerbombt sind, dass man sie nicht wird wiederherstellen können.

Die Autorin

Kseniia Balabanova (29) kommt aus der ukrainischen Stadt Charkiw, die nahe der russischen Grenze liegt und seit Kriegsbeginn ein Zentrum der Angriffe ist. Sie hat drei Master-Abschlüsse, arbeitete als Psychologin und als Dozentin an der nationalen Universität für Luft- und Raumfahrt. Ihre Leidenschaft ist das Tanzen – sie betrieb auch ein eigenes Tanzstudio in Charkiw.

Auf ihrer Flucht vor dem Krieg landete sie in Leichlingen und schreibt fortan für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ darüber, was sie in Deutschland erlebt und was sie über den Krieg denkt. 

Nun könnte man meinen, die Menschen, die noch in Charkiw geblieben sind, seien demoralisiert und gebrochen von dieser Zerstörung. Aber im Gegenteil, die Stadt steht zusammen wie nie zuvor. Und damit meine ich nicht nur unsere Kämpfer, die mittlerweile nicht nur verhindern, dass die Eindringlinge in die Stadt vordringen, sondern sie sogar zurückdrängen.

Seit zwei Monaten in der U-Bahn-Station

Die, die sich nicht für den Militärdienst einschreiben konnten, haben ein riesiges Netzwerk für humanitäre Hilfe gegründet, sie versorgen Hunderte von Menschen in der ganzen Stadt und in den U-Bahn-Stationen. Viele Menschen leben dort mittlerweile seit zwei Monaten, um sich vor den Bomben zu schützen, die jeden Tag fallen.

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Manche Menschen leben seit zwei Monaten in U-Bahn-Stationen. 

Aber trotz allem: Die Stadt lebt weiter. Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes gehen jeden Tag raus und stellen die Strom- und Wasserversorgung wieder her, wo sie von Bomben zerstört wurde. Freiwillige gehen durch die Straßen und befreien sie von Schutt und Müll. Ein kleines Beispiel: Eine Freundin schrieb mir folgende Nachricht: „Heute Nacht hat eine Rakete den Asphalt auf der Straße zerschlagen. Bis zum Mittag war es schon wieder repariert. Und das ist nicht mal in der Innenstadt.“

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Cafés und Bäckereien, Läden und auch Beauty- und Tattoo-Studios: Viele Geschäfte öffnen wieder. Weil die Menschen wissen, dass die Wirtschaft am Laufen gehalten werden muss, wenn wir unser Land wieder aufbauen wollen, wenn dieser Krieg vorbei ist. Es gibt Cafés, in denen man auch einen Kaffee bekommt, wenn man nicht bezahlen kann. Die Künstler und Musiker aus Philharmonie und Oper spielen Konzerte im Untergrund. Animateure, die im Vergnügungspark „Gorky Park“ in Charkiw gearbeitet haben, bespaßen die Kinder. Es ist unglaublich, aber es gibt selbst Hochzeiten in den U-Bahn-Station.

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Anastasia und Anton haben in Charkiws U-Bahn-Station "Universität" geheiratet und feiern ihre Liebe im Hof eines von russischen Raketen zerstörten Wohnblocks.

Anstelle von schicken Kleidern tragen viele Frischvermählte „Vyshyvankas“ – Ukrainische Nationalkleidung. Das Ukrainische ist für uns viel wichtiger geworden. Früher haben die vielen Einwohner von Charkiw selbstverständlich Russisch gesprochen, Ukrainisch brauchte man nicht. Heute versucht jeder, Ukrainisch zu sprechen.

Pflanzen vom anderen Ende des Landes

Ich möchte noch eine besondere Geschichte erzählen, die zeigt, wie sehr die Menschen an ihrer Stadt hängen und an deren Zukunft glauben: Als es Frühling wurde, hat der Bürgermeister die Menschen aufgerufen, die Stadt neu zu bepflanzen. An vielen Stellen wurden Parks zerstört und viele wollten mit anpacken.

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Blumen geben den Menschen Hoffnung, auch hier in einer U-Bahn-Station in Charkiw.

Im Internet verbreitet sich dazu schnell folgende Geschichte: Im Westen der Ukraine kam ein Mann, der aus Charkiw stammt, in eine Postfiliale und sah dort eine ältere Frau weinen. Er ging zu ihr und fragte, was passiert sei und ob er helfen könne. Es stellt sich heraus, dass sie den Aufruf des Bürgermeisters gesehen hatte und Baum-Setzlinge nach Charkiw schicken wollte, aber sie wusste nicht, an welche Adresse sie sich wenden sollte. Der Mann half ihr und teilte die Geschichte auf Facebook.

Zeichen der Einheit

Dieses Geschenk vom anderen Ende des Landes und die Emotionalität der Frau haben die Einwohner von Charkiw sehr bewegt. Städtische Mitarbeiter haben sich bei ihr gemeldet, ihr persönlich gedankt und ihr gesagt, dass die Bäume im Stadtzentrum in der Nähe des Brunnens am Friedensplatz gepflanzt werden. Als Zeichen der Einheit der ukrainischen Bevölkerung. Als Dank schickten sie der Frau Setzlinge für Blumen zurück.

Die Frau hat übrigens einen sehr symbolträchtigen Namen: Sie heißt Nadia, was auf Ukrainisch Hoffnung heißt. Übersetzt von Stefanie Schmidt, weitere Teile der Serie folgen.

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