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Acht ToteVor 100 Jahren explodierten in Bayers Sprengstoffwerk 80.000 Kilo TNT

Lesezeit 4 Minuten

Leverkusen – TNT. Bei Bayer steht die Abkürzung von Trinitrotoluol auch für den größten Unfall in der Geschichte des Werks. Vor 100 Jahren, am 27. Januar 1917, fliegt die Sprengstoff-Fabrik in die Luft.

Von der Anlage, in der pro Monat 200 bis 300 Tonnen TNT hergestellt wurden, bleibt nur ein großer Krater. Der Flittarder Werksteil ist nicht mehr, steht in den Chroniken. Die Hauptverwaltung, der Prachtbau Q 26 an der Kaiser-Wilhelm-Allee, wird in Mitleidenschaft gezogen, auch ein anderes Gebäude im Q-Block schwer beschädigt. 80 000 Kilo Sprengstoff sind explodiert.

Acht Menschen werden getötet. Sieben Leute von Bayer und der Wachmann Adam Marchel. Zwei werden durch die enorme Druckwelle weit weg von einem Baugerüst gefegt: der Anstreicher Hermann Schmalenbach und der Glaser Johann Kramer.

Als Ursache für die Katastrophe an jenem Samstag gilt der Versuch, einen Leitungskrümmer zwischen dem Vorratsbecken und der Abfüllanlage frei zu bekommen. Er ist bei minus 21 Grad eingefroren; Es ist – das legen die Quellen nah – der Aufseher Carl Werner, der versucht, das Teil zu lösen. Er steckt einen Messingstift in die Leitung und schlägt mit einem Holzhammer dagegen.

Ein fataler Eingriff: Durch die erste kleine Explosion wird Werner enthauptet, nach vier Minuten kommt die zweite Detonation, deren Druckwelle noch in Köln, Düsseldorf und Krefeld Schäden anrichtet. Hunderte Menschen werden verletzt, darunter auch die einzige Tochter von Carl Duisberg. Hildegard fällt in der Direktorenvilla ein Oberlicht auf den Kopf, sie erleidet einen doppelten Schädelbruch.

Schwer beschädigt wird auch der Alizarinbetrieb. Die damalige Bezeichnung: Q 15

Den Direktor der Farbenfabriken erreicht die schlimme Kunde in Berlin. Duisberg ist auf der Rückreise vom Hauptquartier der Wehrmacht in Oberschlesien. Das passt an Kaisers Geburtstag; der Monarch wird 48 Jahre alt. Dass Duisberg sich im Umfeld des Kaisers aufhält, versteht sich: Bayer hat sich zum größten Sprengstoff-Hersteller des Reichs emporgeschwungen, produziert allein ein Drittel des Bedarfs, den die Wehrmacht im Weltkrieg hat.

Duisberg beschreibt das Unglück in seinen Erinnerungen als „die reinste Hölle“. Zumindest, solange er nicht weiß, was wirklich passiert ist. Zunächst heißt es, „ganz Leverkusen sei vom Erdboden verschwunden“.

Darstellung des Werks vor 100 Jahren

Überprüfen lässt sich das erst einmal nicht. Lorenz Adlon, in dessen Luxusherberge am Brandenburger Tor Duisberg zu Mittag isst, überbringt dem Geheimrat die Schreckensnachricht. In den nächsten Stunden versucht Duisberg, mit Leverkusen zu telefonieren. Zunächst vergeblich – dann stellt das Hauptquartier der Wehrmacht eine Verbindung zu seiner Frau Johanna her. Sie kann von der Villa aus die ganze Katastrophe beobachten.

Neben der starken Zerstörung und den vielen, vielen verletzten Arbeitern ergibt sich ein weiteres, sehr großes Problem.

Im Lazarett, das Duisberg in einem Verwaltungsgebäude hat einrichten lassen, liegen 450 verletzte Soldaten. Weil in dem Haus sämtliche Scheiben zerborsten sind, schweben bei der Eiseskälte im Januar 1917 viele plötzlich in Lebensgefahr. „In höchstmöglicher Eile“, schreibt Duisberg, werden sie in andere Hospitäler gebracht.

Am Donnerstag nach der Explosion werden sechs der Todesopfer auf dem damals so bezeichneten Wiesdorfer Friedhof begraben. Bayer wird durch die Direktoren Ott, Quincke, Heymann und Nieme vertreten. Dazu kommen Kollegen der Opfer aus den Betrieben und der Männergesangverein der Farbenfabriken.

Auch der Wiesdorfer Bürgermeister und der Landrat des Kreises Solingen wohnen der großen Trauerfeier bei. Eine besondere Rolle spielt aber das Militär: Der Gouverneur der Festung Cöln – damals noch mit C – lässt zwei Flieger über dem Friedhof schweben, „um den im Dienste des Vaterlandes Gestorbenen die letzten Ehrengrüße des deutschen Heeres zu bringen.“ So ist es in der damaligen Werkzeitung „Die Erholung“ beschrieben.

Quincke hebt das Außergewöhnliche des Unglücks hervor; die Explosion sei der erste große Unfall während des Kriegs. Der Direktor beschreibt, wie der Aufseher im brennenden Gebäude bleibt, wie der Heizer Carl Caspar noch versucht, die Feuer im Kessel zu löschen und deshalb auf seinem Posten ausharrt – wie der Wachmann Adam Marchel. Vorarbeiter Wilhelm Hofacker, Maurer Peter Gatzen und Plattenleger Peter Rech werden von herumfliegenden Eisenstücken getroffen und tödlich verletzt.

Quincke vergleicht die Arbeiter mit den „Helden des Schlachtfelds“, die Herstellung von TNT diene ebenso wie deren Dienst an der Front „Krieg und Sieg“.

Die Namen von Caspar, Hofacker, Cramer, Schmalenbach und Werner werden auf dem Ehrenmal verewigt, das noch heute steht. Kürassier Marchel wird ebenfalls am 1. Februar beigesetzt – auf dem Ehrenfriedhofs des Heers.

Es dauert lange, bis die Schäden im Werk behoben und allein alle Fenster wieder dicht sind. Über 80 Waggons Glas werden gebraucht. Ein kriegswichtiges Gut, das 1917 rationiert ist. Daran denkt Carl Duisberg übrigens sofort, als er in Berlin von der Katastrophe erfährt.

Er eilt zum Chef des Munitionsbeschaffungsamtes und verlangt soviel Glas wie möglich. Wieder einmal liefert der Geheimrat einen Beweis seines Organisationstalents. Die Sprengstoff-Fabrik lässt er nicht mehr in Flittard aufbauen. „Sie wurde nun nach Worringen verlegt, und seitdem blieben wir glücklicherweise von Unglücken gleicher Art verschont.“