Berühmtes BauprojektWarum der Leverkusener „Lindwurm“ niemals zur Umsetzung kam

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Architekten betrachten mit dem Planungsamtsleiter Paul Grantz (r.) das Modell des Lindwurms. Manche waren bereit, für die Wohnmaschine die gesamte Kolonie II abzubrechen.

Architekten betrachten mit dem Planungsamtsleiter Paul Grantz (r.) das Modell des Lindwurms. Manche waren bereit, für die Wohnmaschine die gesamte Kolonie II abzubrechen.

  • Vor 50 Jahren bewegte die Idee einer Wohnanlage für 15.000 Menschen Leverkusen.
  • 5000 Wohnungen sollten entstehen. Das Projekt wurde allerdings niemals verwirklicht. Gut oder schlecht für die Stadt?

Leverkusen. – In einer Hitliste der schönsten Innenstädte käme Leverkusen nicht auf die ersten Plätze. Die Stadt hat andere Qualitäten. Aber man muss froh sein, dass sich ein paar Planer und Investoren vor genau 50 Jahren letztlich nicht durchgesetzt haben, denn sie wollten eine schlechte Vision verwirklichen. Die ganze Kolonie II sollte abgebrochen werden: Eine Schweizer Gruppe plante einen im Durchschnitt 16-stöckigen Bau. Weil er auf Stelzen stehen sollte und wegen seiner extremen Länge erhielt er den Arbeitstitel „Lindwurm“.

Gebaut aus Glas und Beton, mit 5000 Wohnungen für 15 000 Menschen, ein liegender Wolkenkratzer, sollte er die gemütliche Kolonie II ersetzen und Wiesdorf „verdichten“. Unter den Wohnblocks, so ein begeisterter Kommentar, könne man trockenen Fußes wandeln. In Genf stand das fast baugleiche Vorbild, nur kleiner – für 10 000 Menschen.

Von Bayer angestoßen

Es waren die Vorstände der Farbenfabriken unter dem Vorsitz von Kurt Hansen, die den Entwurf des Schweizer Architekten quasi aus dem Ärmel zogen und nach Leverkusen brachten. In der Verwaltung war man begeistert und zeigte den weit ausgearbeiteten Plan erstmals Anfang Mai ’69 in einer Pressekonferenz. Die Baywoge (Bayer-Wohnungsgesellschaft) sollte das Ding später betreiben. Auch die Stadtverwaltung war in die Vorbereitungen einbezogen, denn die Amtsleiter hatten sich schon früh klar entschieden: Alle wollten den Lindwurm in Wiesdorf.

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Die Politik spielte mit: Schon am 12. Mai machte der Stadtrat den Weg für eine entsprechende Änderung des Bebauungsplan für Wiesdorf frei. CDU-Ratsherr Elmar Widera regte immerhin an, einen Soziologen zu befragen „wie es sich in einem solchen Lindwurm lebt“. Für den Wurm sprach, dass Wohnungsnot in der Boom-Stadt Leverkusen herrschte.

Reise nach Genf

Anfang Juni reiste eine Delegation nach Genf zum Vorbildbau Cité du Lignon. Mit dabei war der Leverkusener Anzeiger, weshalb ein Expeditions-Bericht vorliegt. Auch Redaktionsleiter Alfred Nasarke war angesteckt. Er schrieb: „Der Lindwurm lebt. Vom Licht, das sich bricht, selbst wenn der Himmel grau und regenverhangen ist…“. Er fand aber auch „etwas Niederdrückendes“ und berichtet, den meisten Rats-Politikern sei nicht ganz wohl gewesen bei dem Gedanken, dass so etwas auch in Leverkusen entstehen sollte.

Leverkusen hatte 1969 regelrechte Zukunfts-Laune: Stolz war man aufs neue Forum, die City; Bayer plante den Bau eines Atomkraftwerks: „1975 oder schon früher“, wurde Direktor Dr. Just zitiert. Ohne Bedenken beschloss man den Abbruch des alten Rathauses. Mit großer Mehrheit.

Am 12. Juni titelte der Leverkusener Anzeiger: „Frühjahr/ Mitte 1970 Baubeginn Lindwurm“. Von einer Versammlung der Mieter der Kolonie II wird berichtet, dass die Wogen der Entrüstung geglättet wurden, noch bevor sie hochschlagen konnten. Die Hauptsorge war, dass man zwischen Abbruch der Kolonie und Einzug in den Lindwurm ohne Wohnung dastehen könnte. Die Bauzeit veranschlagte Bayer mit sieben bis neun Jahren. Die Mieter der gefährdeten Kolonie sollen später zu den erbittertsten Gegnern des Lindwurms werden. Sie wollten Duisbergs Siedlung behalten.

Im September ’69 raten erstmals Fachleute den Leverkusenern vom Lindwurmprojekt ab: „Die Menschen werden sich wie in einer Maschine fühlen“, sagen schwedische Architekten, die die Stadt besuchen. Und sie beweisen Weitblick, als sie fragen, was in 100 Jahren sein werde, wenn die in viele Eigentümer aufgesplittete City einmal saniert werden muss und dass das mit dem Autoverkehr ohne ein gutes U-Bahn-Netz im Rheinland zum Problem werden würde.

Lindwurm wird entzaubert

Im Oktober 1969 zeichnete sich eine Wende ab: Bei einer öffentlichen Diskussion unter Beteiligung von gestandenen Architekturprofessoren stieß das Projekt auf breite Ablehnung. Im VHS-Kolloquium „Architektur und Lebensmilieu“ entzauberten die Fachleute den Lindwurm: Wohnmaschine, inhumane Bebauung, geeignet, alles zu zerstören, was an bemerkenswertem geschaffen wurde, gebaute Brutalität – das alles waren Attribute, die sie dem Bau gaben. Auch der Kommentar im Leverkusener Anzeiger ist endgültig ablehnend: „Nachteile erdrückend“. Ein Leserbrief erwartete in der „unmenschlichen Wohnfabrik“ ein neues Kriminalitätszentrum.

„Der Lindwurm ist gestorben“, titelte der Leverkusener Anzeiger am 16. September 1971.

„Der Lindwurm ist gestorben“, titelte der Leverkusener Anzeiger am 16. September 1971.

Als am 16. Oktober 1969 die City-C eröffnet wird, hatte sich in der Bürgerschaft der Wind gedreht. Die Politik aber ignorierte eisern die Erkenntnisse der Fachwelt, der Rat hielt am Projekt fest. Schließlich war der Wohndrache längst beschlossene Sache und der Geist war aus der Flasche: Der Rat bewilligt Geld: 300 000 Mark für ein Verkehrsgutachten, obwohl auch der Bund Deutscher Architekten vor dem Bau warnt. Die Kräfte hinter dem Projekt waren stark: Der Rat ließ noch 1970 in nicht-öffentlicher Sitzung die Planung in Gang setzen. Eine Bürgerinitiative gründet sich.

Im Dezember '70 distanziert sich Bayerdirektor Herbert Grünewald vom Lindwurm: „Wenn es bessere Lösungen gibt, müssen sie her.“ Dennoch drängte der Bauausschuss noch im Januar 1971 zur Eile bei den Beschlüssen: Sonst, so das Argument, das auch heute nicht selten ausgespielt wird, könne man wertvolle Zuschüsse nicht mehr abrufen.

Sterben auf Raten

Einen regelrechten Todesstoß für den Lindwurm gab es nicht, eher ein Sterben auf Raten gegen den Willen der Verwaltung: Eine Woche nachdem der Soziologieprofessor Erwin K. Scheuch eine eindringliche Warnung an die Leverkusener abgegeben hatte, beschloss der Rat im Juni 1971 den Bebauungsplan. Über den Sommer muss sich in Politik und Verwaltung etwas getan haben, denn am 16. September titelt der Leverkusener Anzeiger plötzlich erleichtert: „Der Lindwurm ist gestorben.“ Der Bebauungsplan wird zurückgezogen.

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