Aus der Ukraine nach OberbergDie ersten Flüchtlinge sind angekommen

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Am Ende einer dramatischen Flucht ist die Familie V. in Hackenberg untergekommen.

Am Ende einer dramatischen Flucht ist die Familie V. in Hackenberg untergekommen.

Bergneustadt – Der Schock steht Pavel V. noch im Gesicht. „Um 5 Uhr morgens haben uns die Explosionen aus dem Schlaf gerissen. Die Fenster haben gebebt, ich habe die Raketen gesehen, die von Russland aus abgeschossen wurden und bei uns einschlugen. Unsere Kinder haben geschrien.“ Nach sieben Tagen Flucht hat er mit seiner Familie Zuflucht gefunden in der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde in Bergneustadt-Hackenberg.

Die erste Nacht nach der dramatischen Reise haben sie mit einer anderen Familie auf der Bühne in der Kirche geschlafen. Jetzt sind sie erst einmal in einem Privathaus untergebracht. Mit anderen Geflüchteten treffen sie sich im Gemeindezentrum, um sich auszutauschen, während die Kinder im Nebenraum spielen. Auch sie noch gezeichnet vom jähren Ende ihres bisherigen normalen Lebens.

 Lilli und Anna Schröder (r.) kümmern sich um Galina S.

 Lilli und Anna Schröder (r.) kümmern sich um Galina S.

Seinen Familiennamen möchte der Familienvater nicht in der Zeitung sehen, zu groß ist seine Angst, zu tief sitzt die Fassungslosigkeit. „Wir wohnten in der Nähe von Charkiv, nur 13 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, und wir haben uns immer gut mit den Nachbarn in Russland verstanden. Dann haben wir die russischen Fahnen gesehen. Viele haben geglaubt, die Russen wollen uns beschützen vor einem unbekannten Feind, liefen auf die Straße – und wurden erschossen.“

Anders als andere im Gemeindezentrum, die verstummt sind, blicklos in die Ferne schauen, ohne Appetit am Tee nippen, muss Pavel reden. Als könnte er sich auf diese Weise befreien von dem, was hinter ihm liegt. Wie eine Flut bricht aus ihm heraus, was er mit seinen fünf Kindern, seiner Frau Jana und Oma Natalie zusammen erlebt hat. „Wir haben ein paar Dinge zusammengerafft, eine Familie aus dem fünften Stock kam dazu und noch eine ältere Frau, die Schutz suchte. In der Stadt herrschte Panik, es gab kein Geld mehr am Automaten, da sind wir los. Wir waren gerade über eine Brücke gefahren, da wurde sie in die Luft gesprengt. Überall wurde geschossen.“ Seine Frau Jana weint die ganze Zeit. „Wir haben alles zurück gelassen, unsere ganze Existenz, unser Heim, unsere Haustiere“, sagt sie.

Wohnraum gesucht

Dringend wird in allen Städten und Gemeinden in Oberberg Wohnraum für die Geflüchteten gesucht. Angebote nehmen die Verwaltungen der Städte und Gemeinden entgegen. Viele Menschen sind zur Zeit noch unterwegs, versuchen einen Platz im Zug zu ergattern und stecken in den Staus an den Grenzen. In Waldbröl kümmert sich die mennonitische Gemeinde um mehrere Familien, in Gummersbach-Bernberg hat die evangelisch-freikirchliche Gemeinde ihre gerade fertiggestellte Seniorenwohnanlage zur Verfügung gestellt, in Derschlag sind, berichtet Anna Schröder, bisher 18 Menschen aus der Ukraine untergekommen. Geldspenden sind willkommen. „Die Geflüchteten haben kein Geld. Keine Bank tauscht die Währung um“, informiert Alex Berg. Manche brauchen medizinische Versorgung. Auch Hilfsgüter werden an verschiedenen Stellen gesammelt. (ms)

Pavel schildert den Versuch, über Polen auszureisen. Die Autos stauten sich 26 Kilometer lang an der Grenze. Quer durch die Ukraine wollten sie nach Ungarn, das Auto der anderen Familie blieb auf der Strecke. Galina S., die sich ihnen angeschlossen hatte, beschreibt, wie sich alle in das verbliebene Auto quetschten, sie mit dem jüngsten Kind auf dem Schoß. Geschlafen hätten sie in Kirchen, schafften es fast bis nach Ungarn, da blieb auch das zweite Auto liegen. Ein Pastor brachte sie rüber, kehrte aber selbst wieder um, bis zuletzt hatten sie Angst, dass Familienvater Pavel nicht mit durfte.

Der Hilferuf der Gestrandeten erreichte den Bergneustädter Uwe Bockemühl, der gerade Hilfsgüter zur Grenze gebracht und Familienangehörige abgeholt hatte, per Handy. „Ich habe keine Ahnung, woher sie die Nummer hatten“, sagt er. Mit einem Kleinbus, beladen mit Verbandskästen, Medikamenten, Decken und Kochplatten fuhr er wieder los und brachte alle 14 Personen nach Bergneustadt.

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Am Sonntag waren es 35 Menschen, weitere fünf Familien seien gerade unterwegs, weiß Jugendreferent Alex Berg und überlegt, ob man sie per Telefon leiten kann, solange noch Züge fahren. Seine Familie kommt ursprünglich aus Russland, Anna Schröder, die beim Übersetzen hilft und die 60-jährige Galina bei sich aufgenommen hat, aus Estland. Viele andere haben ihre Hilfe angeboten. „Die Türen auch der Russlanddeutschen stehen weit offen“, sagt Berg, In der Kirche stapeln sich Pakete mit Hilfsgütern für die Ukraine bis zur Decke, diese Woche soll ein LKW starten.

Jana V. starrt unentwegt auf ihr Handy. Die Nachrichten aus der verlorenen Heimat sind für sie kaum zu ertragen. Eine Freundin sitze mit ihren Kindern seit drei Tagen im Keller, während draußen Bomben fallen. Ohne Wasser und Essen. „Sie sind gefangen und können nicht raus.“ Die 60-jährige Galina S. ist froh, dass sie nach den Strapazen in Sicherheit ist, sagt sie. In Sicherheit? Pavel V. zweifelt. „Wenn Putin die Ukraine hat, hört er nicht auf. Er will ganz Europa, wenn er nicht gestoppt wird.“

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