Barbara Steffens zu GastErstes Zentrum für Contergan-Opfer öffnet in Nümbrecht
Nümbrecht – Ein Lied, das passt: In der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik in Nümbrecht sangen sechs Contergangeschädigte „Nobody Knows the Trouble I’ve Seen.“ Und tatsächlich können sogar die meisten Mediziner kaum nachvollziehen, welche Leiden die Opfer des Medikaments Contergan haben. Seit Freitag ist ihre ärztliche Versorgung ein Stück weit besser: In Nümbrecht eröffnete das bundesweit erste ambulante Zentrum für contergangeschädigte Menschen. Landesgesundheitsministerin Barbara Steffens sagte: „Das ist der Beginn etwas Großartigem.“
Das ist Contergan
Contergan war der Name eines Medikaments mit dem Wirkstoff Thalidomid, das im Jahr 1957 als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt gebracht wurde. Hersteller war das Pharmaunternehmen Grünenthal mit Sitz in Stolberg bei Aachen.
Ende 1961 wurde es vom Markt zurückgezogen, nachdem die überaus schädliche Wirkung bekanntgeworden war. Bei der Einnahme in der frühen Schwangerschaft verursachte Thalidomid Schädigungen an Embryonen. Viele Kinder kamen tot zur Welt, andere mit schweren Fehlbildungen oder ohne Gliedmaßen oder Organe. Weltweit wurden zwischen 5000 und 10 000 Menschen geschädigt.
Heute leben noch rund 2400 contergangeschädigte Menschen, meldet das Landesgesundheitsministerium – rund 800 davon in Nordrhein-Westfalen. Bis heute steht der Name Contergan für den größten bundesdeutschen Arzneimittelskandal. Er hatte internationale Auswirkungen auf den Umgang mit Arzneimittelzulassungen. (ag/Foto: dpa)
Neben der Ministerin waren zur Eröffnung mehrere Vertreter des Interessenverbandes Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen nach Nümbrecht gekommen. In der Reha-Klinik erhalten sie bereits seit dem Jahr 2000 Hilfe in einer auf sich zugeschnittenen Sprechstunde. Professor Dr. Klaus Peters hat sich ihren ganz speziellen Leiden verschrieben: „Wir haben festgestellt, dass Contergangeschädigte zunehmend unter Folgeschäden wie Rücken- oder Nackenschmerzen und psychischen Beschwerden leiden.“
Der Einrichtung des Zentrums vorausgegangen war eine Studie unter der Leitung von Professor Peters. Mehr als 200 Conterganbetroffene, die heute im Schnitt 54 Jahre alt sind, beteiligten sich. Im Jahr 2014 wurden die Ergebnisse veröffentlicht, und die machten klar: Um die Opfer des Arzneimittelskandals auch im Alter angemessen versorgen zu können, müsse dringend etwas geschehen.
Mit dem Contergan-Zentrum in Nümbrecht kann Betroffenen aus ganz Deutschland nun noch besser geholfen werden. Das Team besteht aus Ärzten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Masseuren und Psychologen, die in den vergangenen Jahren längst zu Experten geworden sind. Neu hinzugekommen ist eine Koordinatorin, die sich um alles Administrative kümmert. Mussten die Betroffenen die frühere Sprechstunde noch selbst bezahlen, werden die Leistungen des Zentrums nun von den Krankenkassen übernommen.
Das Zentrum hat nun auch die Möglichkeit, Folgebehandlungen bei anderen Ärzten zu verordnen und dafür Behandlungspläne aufzustellen. Denn viele Mediziner seien im Umgang mit Contergangeschädigten noch immer unbeholfen, skizzierte der Verbandsvorsitzende Udo Herterich, selbst Betroffener. Er berichtete von einem Arzt, der einen Patienten gefragt habe: „Warum nehmen Sie denn noch immer Contergan?“
Die Geschädigten sind nun in einem Alter, in dem sich Folgeschäden mehr und mehr offenbaren. Herterich berichtete von vermehrten Meldungen über Herzinfarkte und Schlaganfälle, die auf Gefäßschäden zurückgehen. Ministerin Steffens sagte: „Es ist an der Zeit, weiterzugucken: Wie kann Betroffenen mit Telemedizin geholfen werden? Welche Bedarfe haben sie? Und wie kann die pflegerische Versorgung im Alter funktionieren?“
Diesen Fragen nehmen sich Peters und seine Kollegen nun an. Dabei arbeiten sie mit der Kölner Uniklinik zusammen, die sich um die Psyche der Betroffenen kümmert. Bei ihrer Arbeit werden sie auch verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen müssen. Peters berichtete, dass zwei Drittel der Contergangeschädigten von Problemen mit der medizinischen Versorgung berichten. In Nümbrecht sollen sie endlich verstanden werden.