AnalphabetismusMeister im Verbergen und Vertuschen

Birgitt Killersreiter, Hedi Fürstenberg und Anne Haase (v.l.) im VHS-Seminarraum.
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Bergisch Gladbach – Sie haben „dummerweise die Lesebrille vergessen“, noch „keine Zeit gefunden, den Elternbrief zu lesen“ oder sie tauchen mit einem dicken Verband an der Schreibhand bei einem Behördentermin auf. Die Frauen und Männer, die sich mit solch kleinen Tricks durch den Alltag lavieren, könnten zu einer von zwei Gruppen von Erwachsenen gehören, die als Analphabeten bezeichnet werden. Diese Gruppen sind größer, als man es in einem hochentwickelten Industrieland erwarten sollte: Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung sind primäre Analphabeten, können also gar nicht lesen oder schreiben. 14 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind als funktionale Analphabeten zu betrachten, sie kennen zwar Buchstaben und können ihren Namen und einige Worte schreiben, können jedoch den Sinn von Texten kaum oder gar nicht erfassen. Die Volkshochschule (VHS) Bergisch Gladbach ist der Hauptträger von Alphabetisierungskursen in der Strundestadt, seit 1981 sind ihre Dozenten mit der Problematik vertraut. VHS-Leiterin Birgitt Killersreiter: „In Bergisch Gladbach gibt es mindestens 2 500 Menschen, die gar nicht lesen und schreiben können, und über 9 000 funktionale Analphabeten. Unsere Kurse sind immer ausgebucht.“ Hedi Fürstenberg, Fachbereichsleiterin für Gesundheit, Schulabschlüsse und Alphabetisierung, ergänzt: „Hinzu kommen noch die Betroffenen, die nicht hier geboren wurden. Wenn Teilnehmer im Deutschkurs so gar keine Fortschritte machen, entdecken wir gelegentlich, dass sie schon ihre Muttersprache nicht lesen und schreiben können.“
Einige Kursteilnehmer kommen aus eigenem Antrieb, um als Erwachsene noch lesen und schreiben zu lernen, andere werden von der Arbeitsagentur zur VHS geschickt, von der Schuldnerberatung oder vom Arbeitgeber. Anne Haase, Dozentin in den Alphabetisierungskursen: „Alle Erwachsenen, die in meinen Kursen sitzen, haben diese große Scham. Niemand geht offen damit um, dass er die wichtigste Kulturtechnik nicht beherrscht.“ Analphabeten, das wissen die VHS-Fachfrauen aus Erfahrung, sind Meister im Verbergen und Vertuschen und vollbringen dabei teils erstaunliche Leistungen. Beispielsweise, indem sie Straßenschilder als Bilder erfassen und sich so merken können. Haase: „Die Scham ist jedoch auch ein Problem für den Lernerfolg hier bei uns: Niemand soll ja merken, dass man mit dem Lesen und Schreiben große Schwierigkeiten hat – oft sind nicht einmal die Kinder oder der Partner eingeweiht. Natürlich werden deshalb auch die Unterrichtsmaterialien daheim nicht ausgepackt, geübt wird häufig nur hier im Kurs.“ Wenn man bedenke, ergänzt VHS-Leiterin Killersreiter, dass ein Kind sechs Jahre benötige, um die deutsche Sprache sicher zu lesen und zu schreiben, dabei aber vom ersten Schultag an viel Ermutigung und Lob für jeden Fortschritt erlebe, könne man ermessen, wie schwer es für Erwachsene sei, mit einem Kurs, der einmal pro Woche stattfinde, dieses Wissen zu erwerben. Fürstenberg: „Verständlich, dass auch die Angst groß ist, frisch erworbene Fähigkeiten im Lesen und Schreiben wieder zu verlieren. Viele Menschen bleiben sehr lange in unseren Kursen und wir können keine neuen Teilnehmer aufnehmen.“
Natürlich, dessen sind sich die drei Fachfrauen durchaus bewusst, kann in der Erwachsenenbildung nicht so intensiv gelehrt werden wie in der Schule, wo ein Kind täglich rund fünf Stunden lang lesen und schreiben übt. Mithilfe von Hörbüchern, Büchern zu Kinofilmen und Leichtles-Lektüren wird in der Bergisch Gladbacher VHS dennoch versucht, die Kursteilnehmer auf den Weg zum eigenständigen Lesen und Verstehen zu bringen. Killersreiter: „Aktuell möchten wir ein Lerncafé anbieten, das einmal wöchentlich abends geöffnet hat und sowohl das sehr gute Lernprogramm „ich-will-lernen.de“ anbietet, als auch Unterstützung von einer Dozentin und ehrenamtlichen Lesebegleitern. Das Lerncafé könnte helfen, Lese- und Schreibkenntnisse zu festigen und auch unsere regulären Kurse entlasten. Noch allerdings hapert es an der Finanzierung, das offene Angebot wird etwa 2000 Euro jährlich kosten, die wir noch durch Spenden aufbringen müssen.“