Geflüchtete Kinder in Rhein-Berg„Sie brauchen ein bisschen Normalität“

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„Herzlich willkommen“ in Ukrainisch und Deutsch haben Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse der Otto-Hahn-Realschule auf die Tafel geschrieben.

„Herzlich willkommen“ in Ukrainisch und Deutsch haben Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse der Otto-Hahn-Realschule auf die Tafel geschrieben.

Bergisch Gladbach – An den Wänden hängen selbst gemalte Bilder und blau-gelbe Girlanden, „Willkommen“ steht auf der Tafel in Deutsch und in Ukrainisch. Zehn Klassenzimmer für den Kunstunterricht der Otto-Hahn-Realschule an der Saaler Mühle werden kurzfristig zur Notunterkunft für ukrainische Familien. „Die überwältigende Mehrheit der Schülerinnen und Schüler und der Lehrerkräfte ist stolz auf die eigene Schule und darauf, helfen zu können“, sagt Schulleiter Felix Bertenrath. Aber die nächste Herausforderung steht vor der Tür. Sie betrifft wohl alle Schulen im Stadtgebiet: Wie werden die ukrainischen Kinder integriert?

„Herwi“

Initiative bietet Sprachunterricht an

Die Initiative „Herwi“, Kurzform für „Herzlich willkommen“, bietet unter der Leitung von Klaus Farber Geflüchteten aus der Ukraine Deutschunterricht sowie eine Kinderbetreuung für Kinder an. Bereits 2015 hatte die von Farber gegründete Initiative Geflüchteten aus vielen Ländern ein Sprachangebot gemacht. Auch diesmal sind es wieder Ehrenamtliche, die den Unterricht gestalten.

Wie Farber berichtet, haben sich bereits 30 junge Frauen mit sieben kleinen Kindern angemeldet. 20 Freiwillige gehören bereits zum Team. Der Unterricht findet von 10.30 bis 13 Uhr statt: montags und dienstags im Gemeindesaal St. Johann Baptist in Refrath und mittwochs und freitags in den Gemeinderäumen der Zeltkirche in Kippekausen. Es werden noch ehrenamtliche Unterstützer gesucht. Anmeldung, auch der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, bei Klaus Farber, 0 22 04/6 52 66. (ub)

Schüler und Lehrer laufen hin und her, tragen Materialien, Stühle und Tische in einen bisher noch nicht sanierten Trakt des Schulgebäudes, wo dann künftig der Kunstunterricht stattfinden wird. 180 Schüler packen beim Umzug an, am Tag in vier Schichten aufgeteilt, in den Frei- und Vertretungsstunden. „Endlich etwas Positives tun, das ist wichtig für unsere Schüler“, sagt Bertenrath.

Dekorationen in blau-gelb in den kahlen Räumen

Sich selbst zurücknehmen und das teilen, was einem wichtig ist. Feldbetten und Schränke stehen schon in den Ex-Klassenzimmern. Die selbst gebastelten Dekorationen der Schüler in blau-gelb – die ukrainischen Farben, die inzwischen schon jeder auf der Welt kennt – lassen die kahlen Räume weniger trostlos wirken.

Die eine Herausforderung ist bewältigt, die andere beginnt: die Integration der Kinder und Jugendliche,die vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen sind, in den Unterricht. Viele sind schutzbedürftig, möglicherweise traumatisiert. „Das wird nicht einfach. Das ist eine Riesenaufgabe“, sagt Dettlef Rockenberg, Fachbereichsleiter für Bildung und Schule, am Mittwochabend in der Sitzung des Schulausschusses. Unter den ankommenden Geflüchteten seien viele Kinder. Am vergangenen Wochenende trafen an einem einzigen Tag 37 Kinder und Jugendliche in der Betreuungsstelle an der Saaler Mühle ein.

Geschätzt 200 Kinder und Jugendliche sind schon in der Stadt

Rockenberg schätzt, dass insgesamt 200 Kinder und Jugendliche schon in der Stadt sind. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil viele Familien über private Kontakte untergekommen seien. Erst wenn sie sich anmelden, spätestens nach drei Monaten, wenn das Touristenvisum ausläuft, sind die Kinder schulpflichtig. „Wie das organisiert werden soll, wissen wir noch nicht“, klingt Rockenberg eher besorgt.

Denn schon jetzt sind fast alle 20 Grundschulen im Stadtgebiet voll. Er wisse nicht, ob die zusätzlichen Kinder auf die gesetzlich festgelegte Obergrenze für Schulklassen angerechnet würden. Ob es wie 2015 Willkommens- oder Integrationsklassen geben wird, stehe ebenfalls noch nicht fest. „Aber von jetzt auf gleich wird das nicht passieren“, vermutet Rockenberg, „Theorie und Praxis klaffen im Moment noch weit auseinander.“ Aktuell liefen Gespräche mit der Schulaufsicht des Rheinisch-Bergischen-Kreises und den Vertretern des regionalen Bildungsnetzwerkes.

Für zusätzliche Klassen fehlt der Platz

Bei der Otto-Hahn-Realschule ist noch keine Anfrage angekommen, ob Kinder dort den Unterricht besuchen dürfen. Bertenrath rechnet aber damit, dass die Neubürger angesichts des Kriegsverlaufs im Heimatland wohl länger als ein paar Wochen in Bergisch Gladbach bleiben werden.

Dann gehe es vor allem darum, den Kindern erst einmal „Struktur und ein bisschen Normalität zu geben“, meint Bertenrath, „aber für zusätzliche Klassen brauchen wir Platz, den wir nicht haben.“ Und natürlich mehr Personal, was angesichts des ohnehin schon vorhandenen Lehrermangels nicht einfach sein dürfte.

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Dazu kommt, dass viele Kinder sicher seelische Hilfe brauchen. Zumal die meisten Väter zurück im Land bleiben mussten, um zu kämpfen. Aber einen Schulpsychologen gibt es an der Otto-Hahn-Realschule nicht. „Dabei haben wir nach zwei Pandemiejahren selbst Probleme mit unseren Kindern und Jugendlichen“, berichtet der Schulleiter von verängstigten Kindern, die sich nicht mehr trauten, die Masken abzuziehen. Und jetzt komme bei vielen noch die Angst vor einem dritten Weltkrieg dazu. An unbürokratische Wege und ein Budget für Lehrkräfte hat Bertenrath längst den Glauben verloren: „2015 ist uns doch auch keine Integrationsklasse genehmigt worden.“

Am heutigen Freitag räumen Schüler und Lehrer die letzten Stühle und Tische weg. Dann sind die Räume erstmal keine Klassenzimmer mehr, sondern Schlafzimmer für Familien.

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