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Erinnerungen an die DDR„Eine riesige Wut im Bauch“

9 min

Bergisch Gladbach – Sie sind fast gleich alt. Sie sind in unmittelbarer Nähe aufgewachsen, ohne sich zu kennen: im Kreis Cottbus in der DDR. Und sie haben in Bergisch Gladbach ein neues Leben angefangen: Heidrun Breuer (60) kam 1985 als Insassin aus dem Frauengefängnis Hoheneck als politischer Häftling, freigekauft von der Bundesrepublik Deutschland. Die gelernte Friseurin arbeitet im Evangelischen Krankenhaus als Schwester. Petra Holtzmann (58) folgte 1994 einer Liebe ins Bergische: Kurz nach der Wende lernte sie ihren zweiten Mann, einen Bergisch Gladbacher, kennen. Dieser leistete als CDU-Mitglied Aufbauarbeit für die CDU in Brandenburg. Dort war Holtzmann in der CDU aktiv. Seit 1999 sitzt sie im Gladbacher Rat. Zum gemeinsamen Interview mit Sarah Brasack treffen sich die Frauen in Breuers Wohnung – zum ersten Mal.

Frau Holtzmann, Frau Breuer, merken Sie sich gegenseitig an, dass Sie aus der DDR kommen?

Petra Holtzmann: Frau Breuer, Sie sprechen immer noch ein bisschen so wie früher in der DDR. Ich habe eher den Kölner Slang angenommen. Es war aber tatsächlich gleich eine Sympathie da, eine Vertrautheit irgendwie.

Heidrun Breuer: Vertraut ist das richtige Wort, aber erklären könnte ich das nicht.

Wo haben Sie den Mauerfall vor 25 Jahren erlebt?

Breuer: Ich habe auf der Lauer gelegen in West-Berlin mit meiner Familie. Wir waren die einzigen, die in die DDR gefahren sind, während alle anderen raus sind. (lacht) Wir hatten freie Fahrt. Als sich anbahnte, dass etwas passieren würde, sind wir sofort von Bergisch Gladbach nach Berlin und noch in der Nacht zu meinen Eltern nach Preschen gefahren, die ich jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Ich hatte ja eine zehnjährige Einreisesperre in die DDR.

Holtzmann: Ich war zur Kur auf Usedom, habe Fernsehen geguckt und erst nicht realisieren wollen, als es hieß, dass die Mauer fällt. Ich habe mich dann mit einer kleinen Gruppe auf die Fähre begeben und bin nach Rostock gefahren. Dort sind wir im Hafengebiet rumgelaufen. Schon die Fähre war ein Erlebnis: dieses Essen, was es da gab, ein Überangebot und Sachen, die ich noch nie gesehen habe.

War das Ihre erste Fahrt in den Westen?

Holtzmann: Im April 1989 durfte ich zum ersten Mal meinen Halbbruder in Westberlin besuchen. Zehn Tage, ich musste meinen Pass abgeben. Die Polizei hat mich unter Druck gesetzt: Wenn ich nicht zurückkäme, würden sie meine Tochter in eine Einrichtung stecken, zur Adoption freigeben.

Wie haben Sie den Westen erlebt?

Holtzmann: Ich bin mit einer riesigen Wut im Bauch zurückgekommen, weil alles, was mir erzählt worden war, nicht stimmte. Es ist so viel gelogen worden: zum Beispiel, dass die Kinder im Westen ausgebeutet werden. Dann sah ich die vollen Regale in den Geschäften. Wenn ich nicht meine Tochter gehabt hätte, ich wäre nicht wieder zurückgegangen. Als ich wieder drüben war, bin ich halb zusammengebrochen. Ich wusste ja nicht, dass die Grenze im November offen sein würde.

Frau Breuer, 1984 standen Stasi-Leute vor der Tür und haben Sie vor den Augen Ihrer neunjährigen Tochter verhaftet. Was für ein Verhältnis hatten Sie bis zu jenem Zeitpunkt zur DDR?

Breuer: Ich hatte zwei Jahre zuvor begonnen, Ausreiseanträge zu stellen. Mein Verhältnis zur DDR war schon Ende der 70er-Jahre gekippt. Damals war ich mit meinem Mann in Bulgarien und habe erlebt, wie die Touristen aus dem Westen hofiert wurden, obwohl sie doch eigentlich die Kapitalisten waren. Wir konnten uns nichts leisten. Als wir zurückfuhren in die DDR, dachte ich: Dein Leben wird jetzt so weitergehen, bis du in der Kiste liegst. Ich wollte, dass mein Kind eine bessere Zukunft hat.

Heidrun Breuer (60) stellte ab 1982 Anträge auf Ausreise aus der DDR. Durch die Postkontrolle erfuhr die Stasi von geplanten Kontakten der westdeutschen Verwandten zur Fernsehsendung „ZDF-Magazin“. Daraufhin wurde sie im Februar 1984 wegen „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“ und „mehrfach ungesetzlicher Verbindungsaufnahme“ verhaftet. Im Rahmen des Häftlingsfreikaufs gelangte sie im Mai 1985 nach Bergisch Gladbach. Sie arbeitet als Krankenschwester.

Petra Holtzmann (58) folgte 1994 ihrem zweiten Ehemann nach Bergisch Gladbach. Seit 1999 sitzt sie für die CDU im Rat und arbeitet ehrenamtlich als Schiedsfrau. Sie lebt in Schildgen und hat zwei Kinder. (sbs)

Wie kam es, dass Sie zum Staatsfeind wurden, inhaftiert worden ist?

Breuer: Man hat meinem Mann und mir illegale Kontakte in den Westen vorgeworden, ich wurde zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Wie erging es Ihnen in der Haft?

Breuer: Es war furchtbar, unvorstellbar. Das Schlimmste aber war für mich, dass ich mich vor der Haft von meiner Tochter nicht verabschieden konnte. Vier Männer mit dunklen Mänteln klingelten bei mir an der Tür und sagten nur: „Kommen Sie mit zur Klärung eines Sachverhalts.“ Ich war so verdattert. Ich hatte doch nichts getan, an keiner Demo teilgenommen. Ich gab meiner Tochter ein Küsschen und dachte: In ein paar Stunden bin ich wieder da.

Holtzmann: Aber das stimmte nicht.

Breuer: Nein. Erst 18 Monate später sollte ich sie wiedersehen, als die Bundesrepublik mich freigekauft hat. Ich schleppe noch heute Schuldgefühle mit mir rum, weil ich mich nicht verabschiedet habe.

Holtzmann: Aber Sie waren ja nicht schuld.

Breuer: Ich war erst vier Monate in U-Haft, wurde ständig verhört. Dann wurde ich über den Cottbusser Bahnhof geführt, ganz erniedrigend mit Handschellen, rechts und links Hunde und Uniformierte mit Kalaschnikows. Ich habe nur gedacht: Hoffentlich erkennt dich niemand.

Holtzmann: Wie ein Schwerverbrecher. Ich kriege Gänsehaut.

Breuer: Im Stasi-Frauengefängnis in Hoheneck musste ich dann arbeiten. Nähen, Bettwäsche für Neckermann und Quelle.

Sie haben für den Westen gearbeitet?

Breuer: Ja. Das hat man schon an den Motiven gesehen. Die Bettwäsche hatte Palmen, so etwas hätte man in der DDR ja nie zu kaufen gekriegt.

Holtzmann: Was war mit Körperpflege?

Breuer: Das gab es nichts, wir sind rumgelaufen wie Zauseln. Von unserem bisschen Geld haben wir verdorbene Creme und Zahncreme kaufen dürfen. Die Wurst war grau, Kakerlaken überall. Weihnachten, das weiß ich noch, gab es Obst in Gläsern, das schon vergoren war. Aber das wollten wir auch haben, um einen Schnaps anzusetzen (lacht).

Waren Sie mit politischen Gefangenen in einer Zelle?

Breuer: Nicht nur. Wir waren zu zwölft. Darunter eine Frau, die ihren Mann mit einer Forke umgebracht hatte. Ich hatte viel Angst.

An welche Schikane erinnern Sie sich?

Breuer: Ich zählte zu den Frauen, die ihre inhaftierten Männer besuchen durften. Mein Mann saß in Brandenburg. Wir mussten stundenlang in einem Bus sitzen in Reihen. In der Mitte gab es einen großen Trog. Das war die Toilette. Ob Tampons oder großes Geschäft, alles musste vor den Augen der Anderen erledigt werden. Ich muss auch auf diesem Trog gesessen haben, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich muss das aus Scham verdrängt haben.

Haben Sie jemals Einsicht in Ihre Stasi-Akten verlangt?

Holtzmann: Mein zweiter Ehemann hat mich dazu ermutigt. Ich war ja auch Christin, die praktiziert hat. Und dann war ich ja schon vor dem Mauerfall aktiv in der CDU. So etwas wurde kontrolliert. Aber ich habe den Antrag dann doch nie gestellt. Ich will nicht wissen, wer mich eventuell bespitzelt hat.

Breuer: Ich habe ganz viele Akten auf meinem Schreibtisch. Über mich und meinen Ex-Mann. Was mich richtig wütend macht, ist, dass ich die Decknamen nicht entschlüsselt bekommen habe. Aus Datenschutzgründen, weil in erster Linie mein Ex-Mann bespitzelt wurde. Wenn ich die Namen kennen würde, würde ich hinfahren zu den Leuten und sagen: Ich weiß, dass du damals deinen Beitrag geleistet hast. Mehr nicht.

Was wussten Sie früher vom Westen?

Breuer: Wir konnten Westfernsehen empfangen. Meine Tochter hat den rosaroten Panther geguckt. Wobei wir ihr eingeschärft haben, dass sie das im Kindergarten auf keinen Fall erzählen darf.

Holtzmann: Wir haben nur Ton gehabt, kein Bild. Und meine Eltern mussten viel arbeiten. Meine Großmutter hat uns großgezogen. Wir waren nicht so politisch.

Frau Holtzmann, haben Sie die Stasi wahrgenommen in der DDR?

Holtzmann: Nein. Aber dass ich geschieden bin von meinem ersten Mann, ist eine Geschichte, die auch mit der Stasi zusammenhängt. Mein Mann hat bei der Post in Senftenberg gearbeitet. Dort hatten sie eine große Abhörstation und haben meinen Ex-Mann gezwungen, das auch zu tun. Er ist offenbar nicht damit fertig geworden, hat mir aber nie davon erzählt. Er fing an zu trinken, war dreimal in der Nervenheilanstalt. Ich habe das nervlich irgendwann nicht mehr ausgehalten und mich getrennt, um nicht mit unterzugehen. 1994 habe ich mit einem ehemaligen Kollegen von meinem Mann im Landtag zusammengearbeitet. Der hat mir davon erzählt.

Haben Sie mit Ihrem Ex-Mann jemals darüber gesprochen?

Holtzmann: Nein, nicht wirklich. Ich war ja auch wütend auf ihn. Er ist seit einigen Jahren tot.

Breuer: Wir haben die Vergangenheit in der Familie auch totgeschwiegen. Vor zwei, drei Jahren habe ich meine Tochter gefragt: „Wollen wir nicht mal ein Glas Sekt zusammen trinken und sprechen, wie es für dich damals war?“ Sie fragte nur: „Warum interessiert dich das heute? Ich will das einfach nur vergessen.“

Warum sprechen Sie jetzt?

Breuer: Ich will das, weil ich merke, dass da noch viel in mir drin ist. Seitdem ich in der Gerontopsychiatrie arbeite, sehe ich Menschen mit Demenz, deren Vergangenheit hochkommt. Das hat mir Angst gemacht. Ich will mich freistrampeln. Ich gehe ja in Schulen und spreche mit Schülern über das, was ich erlebt habe. Ich sage den Schülern immer: Macht die Augen auf bei den Wahlen. Hier ist mit Sicherheit nicht alles schön, aber wir haben eine Demokratie. Wenn ich zu denen spreche, könnte man eine Stecknadel fallen hören.

Holtzmann: Das ist ja auch eine interessante Geschichte. Und dass Sie das so gut durchgestanden haben, dazu gehört ja allerhand.

Breuer: Ja. Aber ich bin durch die Haftzeit auch hart geworden, nicht zu anderen, sondern zu mir selber.

Es gab also lange Zeit eine große Sprachlosigkeit über die Vergangenheit bei Ihnen beiden.

Holtzmann: Wenn Sie so sagen: ja. Vor diesem Gespräch habe ich in alten Unterlagen gekramt. Da kommen Emotionen wieder hoch. Das tut weh. Man fragt sich: Wäre mein Leben anders verlaufen, wenn es die DDR nicht gegeben hätte? Aber es ist, wie es ist. Ich bin heute angekommen in Bergisch Gladbach.

Breuer: Ja, das bin ich auch.