Lothar SütterlinEin Kernphysiker und Künstler

Lothar Sütterlin empfindet seine künstlerische Arbeit als meditativ.
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Bergisch Gladbach – Kernphysik und Kunst sind zwei Welten, die auf den ersten Blick wohl kaum etwas gemeinsam haben: die eine ist zumeist analytisch und rational, die andere eher emotional. Einer, der beide Welten in sich vereint, ist Lothar Sütterlin. „Künstler wie Physiker müssen offen sein, wenn sie verbohrt sind, kann man sie vergessen“, glaubt der 1939 in Berlin geborene Künstler und Kernphysiker im Ruhestand. „Die Kunst war für mich immer ein nützliches Instrument, das mir in meinem Beruf half, anders an Problemlösungen herangehen zu können – weil die Denke beim Kunstschaffen eine andere ist, weil Emotionen eine Rolle spielen.“
Sein Haus in Refrath ist eine kleine Privatgalerie: an den Wänden hängen Sütterlins Bilder, darunter viel Landschaftsmalerei und einige abstrakte Werke. Im Garten stehen Skulpturen aus Bronze, Stein und Marmor, abstrakte Figuren dominieren. So unterschiedlich die Werke des Künstlers auch sind, strahlen sie doch alle das Gleiche aus, einen tiefen Respekt vor der Natur, vor dem Leben. „Wenn ich Landschaften male, dann ist das für mich eine Art Meditation“, sagt Sütterlin, der Mitgründer der Künstlergruppe „Zweifellos“ und Mitglied des Arbeitskreises der Künstler Bergisch Gladbach (AdK) ist. „Ich bin kein rationaler, sondern ein emotionaler Typ, mit einem Bild möchte ich dem Betrachter Einblicke in mein Gefühlsleben geben.“
Seine Skulpturen indes scheinen ihren Ursprung eher in der Libido als in der Emotion zu haben: Viele von ihnen haben erotische Formen, das vom Künstler erwünschte Berühren der Oberflächen ist ein sinnliches Erlebnis. Eine seiner Bronzeskulpturen zeigt zwei runde, ineinander verschlungene Figuren – rudimentäre Formen des menschlichen Körpers. „Die Skulptur ist ein Sinnbild für die Gemeinschaft: Alles strebt auseinander, wird aber durch die Form zusammengehalten“, schildert Sütterlin. Eine Beschreibung, die auch auf jene Kräfte zutrifft, die in einem Kernkraftwerk wirken.
Bis 1996 arbeitete der Diplom-Kernphysiker Sütterlin, der auf dem Gebiet der Hochtemperaturchemie promovierte, als Analytiker für Sicherheit. Angestellt war er bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, kurz GRS. „Mein Arbeitsgebiet umfasste Kernkraftwerke oder kerntechnische Einrichtungen, die ja sehr unterschiedlich konstruiert sind. Es gibt etwa Hochtemperatur-Reaktoren, Druckwasser-Reaktoren und Schnelle Brüter.“ Bereits 1972 erweiterte Sütterlin den Sicherheitskatalog für Kernkraftwerke, was die Betreiber zum Umdenken zwang. Bis dato war unklar, ob ein Kernkraftwerk äußeren Einwirkungen standhalten könne. Was würde passieren, wenn ein Flugzeug auf ein AKW stürzte? „Dann rappelt die ganze Kiste, da ist nicht nur eine Pumpe kaputt, dann weiß der Teufel, was da kaputt ist“, sagt Sütterlin. „Man musste umdenken, globaler denken, nämlich an das Gesamtsystem. Das habe ich gesagt, zum Ärger der Betreiber.“ Dem Kernphysiker warf man vor, er habe von Bautechnik keine Ahnung. „Daraufhin habe ich Hochbau studiert mit Abschluss als Baustatiker.“
Schließlich habe er den Betreibern klarmachen können, dass die Geschwindigkeiten bei Flugzeugen – oder auch bei Raketenbeschuss – so hoch seien, dass man über die Statik hinaus etwa auch den sogenannten Flüssigkeitsbereich des Betons berücksichtigen müsse. „Nach dem ganzen Theater wurde der gesamte Sicherheitskatalog umgesetzt, heute halten die Anlagen Flugzeugabstürzen stand.“ Sütterlin überprüfte nicht nur deutsche Kernreaktoren auf ihre Sicherheit, sondern auch russische Meiler. „Nach der Wende, als die Sowjetunion zerfiel und sich Einzelstaaten bildeten, hat die Bundesrepublik ein Programm erarbeitet zur Einführung der Demokratie und zum wirtschaftlichen Aufbau. Ein Punkt war die Sicherheit nuklearer Anlagen: Man wollte wissen, ob man sich vor russischen Kernkraftwerken fürchten musste.“ Musste man nicht: „Es kam heraus, dass das technische Niveau der Russen sehr hoch ist.“ Wie kam es aber in Tschernobyl zur Katastrophe? „Wenn man technische Maßnahmen durch Handlungsanweisungen ersetzt, Befehle befolgt, obwohl sie unsinnig sind, braucht man sich nicht zu wundern“, sagt Sütterlin. „Ein AKW, das abgeschaltet wird, muss für einen bestimmten Zeitraum abgeschaltet bleiben. Tschernobyl war abgeschaltet, aus Moskau kam die Ansage, dass Strom gebraucht werde. Es wurde also wieder angeschaltet, aber viel zu früh – damit war die Katastrophe da.“
Auch wenn er in seinem Job „mehr als ausgelastet“ war, nahm sich der Kernphysiker Zeit für seine Kunst – ein Ausgleich zum Berufsstress. „Am Anfang trieb mich der Zorn über schwer zu lösende Gleichungssysteme zur Staffelei. Dann hab’ ich alles liegengelassen, mir einen Pinsel genommen und meine Wut raus gelassen“, schildert Sütterlin. „Kunst zu schaffen war für mich immer sehr befreiend.“ 1996 ging er in den vorgezogenen Ruhestand und studierte Kunst an der Europäischen Kunstakademie in Trier – ein Neuanfang mit 57. Sütterlin: „Als der Job vorbei war, fiel die enorme Stressbelastung weg. Ich konnte plötzlich arbeiten für mich allein, das tat mir sehr gut.“ Heute blickt Sütterlin auch auf ein bewegtes Künstlerleben zurück. Seine Werke wurden international gezeigt, in deutschen, russischen, US-amerikanischen und französischen Galerien und Museen. Mit seinen Arbeiten hat er auch seine Philosophie verbreitet – die des Kernphysikers, die des Künstlers: „Alles hängt zusammen“, sagt Sütterlin. „Als der Urknall passierte, bildeten sich Protosonnen, als diese Protosonnen kollabierten, bildeten sich Atome – sämtliche Materie, die es im Universum gibt, stammt von diesem Kollaps, sprich: Jedes Ding hängt mit dem anderen zusammen.“ Wenn man das verstanden habe, sei man vorsichtiger bei der Interpretation nicht-menschlicher Dinge. „Man bekommt Respekt vor anderen Lebensformen.“