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NationalsozialismusVom Trotz zum politischen Kampf

Lesezeit 5 Minuten

Eine Gruppe von Edelweißpiraten aus Mülheim bei einem Ausflug zum Drachenfels 1943.

Kürten – „Die Sache, die wir gemacht haben, hat ordentlich Staub aufgewirbelt.“ Josef ist klar, dass die Aktion lebensgefährlich für ihn und seine Freunde ist: „Wenn sie uns kriegen, bringen sie uns um“, notiert der Jugendliche im März 1943 in seinem Tagebuch. „Die Sache“ – das sind Flugblätter der Engländer, die im Zweiten Weltkrieg nachts von britischen Bomberpiloten über Köln abgeworfen werden und die aufzuheben oder gar weiterzuverbreiten für Deutsche unter strengster Strafe steht.

Josef und seine Freunde, die zu den sogenannten Edelweißpiraten gehören, schreckt das nicht: Nach jedem Bombenangriff schleichen sie im Schutz der Dunkelheit durch die Straßen von Ehrenfeld, sammeln heimlich die Zettel auf, stecken sie in die Briefkästen der umliegenden Häuser. So hoffen sie, den Widerstand der deutschen Bevölkerung gegen die Nationalsozialisten zu fördern und ein Zeichen zu setzen. Josef und sein Tagebuch sind Fiktion, die Geschichte ist es nicht: Das Jugendbuch „Edelweißpiraten“, aus dem Autor Dirk Reinhardt den Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 9 in der Gesamtschule Kürten vorlas, basiert auf realen Begebenheiten vor 70 Jahren.

Die Gruppen von deutschen Jugendlichen, die als Edelweißpiraten bezeichnet werden, fielen zwischen 1939 und 1945 im nationalsozialistischen Deutschland zunächst nur durch unangepasstes Verhalten auf. Später nahmen sie in vielen Fällen als Regimekritiker eine oppositionelle Haltung zum Nationalsozialismus ein oder gingen in den aktiven politischen Widerstand. Ihre Wurzeln hatten die Jugendlichen oft in der Arbeiterschaft, verbindendes Element der Gruppen war zunächst die Gegnerschaft zur Hitlerjugend.

Entsprechend radikal wurden sie von den Nationalsozialisten verfolgt. Sie mussten mit Haft, Folter und Hinrichtung rechnen. Genaue Zahlen über die Opfer existieren nicht, aber man schätzt, dass nur eine Minderheit den Zweiten Weltkrieg überlebte. Im Nachkriegsdeutschland erfuhren die Edelweißpiraten erst spät Anerkennung und Rehabilitierung. (spe)

Spätestens ab 1942 war Köln wichtiges Zentrum der Edelweißpiraten. In Gestapoakten werden dort 3000 Namen genannt. Aber auch in in Duisburg, Düsseldorf, Essen und Wuppertal, waren sie aktiv. Die Bezeichnung Edelweißpiraten gaben sie sich nicht selbst, sondern der Name wurde zunächst von der Gestapo als Verhöhnung der Jugendlichen benutzt, gegen Ende des Krieges allerdings von etlichen Gruppen auch als Selbstbezeichnung übernommen. Einige der Gruppen, wie die Kölner Edelweißgruppe, beteiligten sich aktiv am Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Edelweißpiraten verbreiteten Flugblätter und schrieben Parolen gegen das herrschende Regime auf Hauswände oder versteckten und versorgten geflohene Kriegsgefangene und Juden. Zu ihrem eigenen Schutz arbeiteten sie mit Decknamen.

„Mich hat interessiert, wie junge Leute aus der Arbeiterschaft, die zunächst eher unpolitisch sind und eigentlich nur aus Trotz ihre persönliche Freiheit verteidigen, die nicht der Hitlerjugend angehören, sondern ihre Freizeit selbst gestalten wollen, nach und nach in den politischen Widerstand gedrängt werden“, sagt Reinhardt. Der promovierte Historiker war schon zu Beginn seines Studiums auf die Geschichte der Edelweißpiraten gestoßen, die im Gegensatz zu anderen Widerstandsgruppen wie „Die Weiße Rose“ lange ein Schattendasein führten. Erst spät wurden die Edelweißpiraten, die ihren Namen als Verhöhnung von den Nazis erhielten, von der Forschung entdeckt, obwohl sie nicht nur in Köln, sondern auch in etlichen Städten des Ruhrgebietes aktiv waren. Viele der Akteure schwiegen noch lange nach Kriegsende.

Den Mut häufig mit dem Leben bezahlt

Mit seinem Jugendbuch will Reinhardt besonders Jungen und Mädchen für das Thema interessieren, die heute so alt sind, wie die Widerständler damals. Die Jugendlichen hören dann auch gebannt zu, mit welcher Courage die Jungen und Mädchen vor 70 Jahren versuchten, in einem verbrecherischen System ihre eigenen Freiheitsrechte und die anderer zu verteidigen. Um sich zu schützen, agierten die Jugendlichen, die sich den Edelweißpiraten angeschlossen hatten, nur unter Decknamen. Da wurde zu „Flint“ oder „Kralle“, wer eigentlich Werner oder Günther hieß; da traute man sich bald nicht mehr offen zu sprechen, zu allgegenwärtig war das Bespitzelungssystem der Gestapo. Dennoch gelang es den Gruppen immer wieder, „Flugblätter zu verteilen, Parolen an Hauswände zu schreiben oder sich an Bahnstrecken zu schleichen, um Züge, die Nachschub an die Westfront bringen sollten, zum Entgleisung zu bringen“, so der Autor, der für sein Buch monatelang in Archiven geforscht und alte Verhörprotokolle gelesen hat.

Trotz aller Vorsicht bezahlten viele der Edelweißpiraten ihren Mut mit dem Leben. Reinhardt: „Mehr als die Hälfte von ihnen ist noch während des Krieges umgekommen. Einige wurden in das Jugend-KZ Moringen bei Göttingen gebracht.“ Das verließen die meisten nicht lebend. Hier verliert sich ihre Spur. „Andere wurden in Köln zur Abschreckung öffentlich gehenkt, wieder andere sind in den kalten Kriegswintern erfroren, weil sie in den politischen Untergrund gehen mussten und sich in Schrebergärten oder alten Industriehallen versteckten.“

Im Roman überlebt Josef Gerlach, der Tagebuchschreiber. Aber auch er macht bald Bekanntschaft mit den brutalen Verhörmethoden der Gestapo...

Warum gerade dieses Thema?, wollen die Schüler vom Autor wissen. An diesem sonnigen Tag mehr als 70 Jahre später ist kaum vorstellbar, dass die gelesenen Szenen sich so oder ähnlich vor zwei Generationen im nahen Köln, in Wuppertal oder Essen abgespielt haben. „Ich fand es spannend, auf welche Weise die Edelweißpiraten zum Widerstand gekommen sind, und wie sie das jahrelang durchgehalten haben“, sagt Reinhardt. „Es sind ideale Identifikationsfiguren.“ Und in der historischen Bilanz zählt möglicherweise auch gar nicht immer das konkrete Ergebnis, sondern allein der Mut, gegen Gewalt aufzustehen. Oder wie Josef es in seinem Tagebuch vermerkt: „Vielleicht ist es ja auch gar nicht wichtig, dass sich was ändert, sondern dass wir was tun...“

Der Roman „Edelweißpiraten“ von Dirk Reinhardt ist erschienen im Aufbau-Verlag (ISBN 978-3-351-04163-2), 254 S., 14,99 Euro (auch als Taschenbuch für 8,99 Euro)