Interview mit Sozialwissenschaftler„Die Jesiden emanzipieren sich“

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Professor Dr. Sefik Tagay steht vor einem Bücherregal.

Professor Dr. Sefik Tagay ordnet die Situation der Jesiden ein.

Ein Odenthaler Jeside kämpft für sein Volk. Professor Dr. Sefik Tagay ordnet den Konflikt zwischen der Jesiden und Kurden ein.

Herr Tagay, Sie sind Leiter des Instituts für Geschlechterstudien (IFG) an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Köln und beschäftigen sich seit vielen Jahren wissenschaftlich mit der Identität der Jesiden. Wo hat der Konflikt zwischen den Kurden und Jesiden seinen Ursprung genommen?

Sefik Tagay: Die Jesiden wurden über Jahrhunderte immer wieder verfolgt – unter anderem auch von den Kurden. Trotzdem sahen sie sich auch lange als Brudervolk. Wenn Sie vor 30 Jahren Jesiden gefragt haben, als was sie sich identifizieren, hätten viele gesagt, dass sie Kurden sind. Die Jesiden sehen sich auch als die Ur-Kurden. Doch mit dem Genozid des sogenannten Islamischen Staats 2014 verschwand dieses Zugehörigkeitsgefühl immer mehr. Die Kurden hatten angekündigt, dass sie den Jesiden gegen die Terrormiliz Schutz bieten, als klar wurde, dass ein Angriff bevor steht. Doch als es soweit war, haben die Kurden ihr Wort nicht gehalten, sie haben den Jesiden nicht einmal Waffen gegeben, damit sie sich verteidigen können. Und seitdem wenden sich viele Jesiden von der kurischen Identität ab. Es findet eine Emanzipation der Jesiden statt.

Wie äußert sich der Konflikt?

Im Irak gibt es zwei große Kurdische Parteien, zu denen aber auch jesidische Abgeordnete gehören. Die Regierung setzt ihren Willen und ihre Interessen durch. Also: Dass alle Jesiden sagen, dass sie Kurden sind. Im Irak ist die Freiheit bei weitem nicht auf dem Niveau, wie sie bei uns in Deutschland ist. Die Jesiden, die hier in der Diaspora leben, haben eigentlich keinen politischen Druck und können sehr selbstbestimmt leben. Allerdings kann ich nicht ausschließen, dass die Familien, die in der Heimat zurückblieben, eventuell Konsequenzen davontragen, wenn ihre Angehörigen sich hier den Regeln der Regierung widersetzen.

Wie groß ist der Anteil der Jesiden, der die kurdische Identität und Regierung akzeptieren?

Das sind zwei ungefähr gleich große Lager. Man darf auch nicht vergessen: Die Kurden bilden die offizielle Regierung der Autonome Region Kurdistan. Zu ihnen gehören auch offizielle Vertreter der Jesiden. In diesem Gebiet liegt das Heiligtum der Jesiden, die Grabstätte von Scheich ʿAdī ibn Musāfir, dem bedeutendsten Heiligen der Jesiden. Das erkennen viele Jesiden eben auch an. Dennoch sagen immer weniger Jesiden, dass sie Kurden sind. Denn mit der kurdischen Identität wird auch die islamische Religion verbunden. Selbst wenn sie diese nicht ausüben, würden sie von vielen als Muslime wahrgenommen werden. Dadurch, dass sie sich ihrer Identität immer bewusster werden, möchten immer mehr Jesiden das nicht mehr.

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