Zwei Brieftauben gehören zu den Hauptakteuren des aktuellen Kunstprojekts in der Synagoge Stommeln, das am 22. Mai eröffnet wurde.
Synagoge StommelnKünstler wandelt Flugrouten von Tauben in Pulheim in GPS-Daten um

Tauben sind neben Sängerinnen und Sängern die Hauptakteure des neuen Synagogenprojektes.
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„Atabey“ und „Altes Mädchen“ gaben in ihren Käfigen keinen Laut von sich. Dabei gehören die beiden Brieftauben doch zu den Hauptakteuren des aktuellen Kunstprojekts in der Synagoge Stommeln, das am Donnerstag eröffnet wurde. Nach mehrjähriger Pause – 2019 war zuletzt Alfredo Jarrs Werk „Lament of the Images“ zu sehen – hat die Stadt Pulheim den Konzeptkünstler Olaf Nicolai eingeladen, das 1990 etablierte Projekt fortzusetzen.
Pulheim: Ortsspezifische Performance
Nicolai hat in seiner künstlerischen Laufbahn ein breites Spektrum interdisziplinärer Arbeiten realisiert. Für die Synagoge in Stommeln hat er eine ortsspezifische audiovisuelle Performance entwickelt, die von einem Zitat aus dem Talmud, einem bedeutenden Schriftwerk des Judentums, inspiriert ist.
Es lautet „Ein ungedeuteter Traum ist wie ein ungelesener Brief“ und verweist auf die zentralen Aktivitäten, die in der Synagoge einst stattgefunden haben: Sprechen, Lesen, die Diskussion und das Weitertragen von Texten, wie es etwa der Fall ist, wenn ein Brief auf Reisen geht.

Countertenor Daniel Gloger übertrug die Flugroute einer Taube in eine sinnlich erfahrbare Form.
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Hier kommen „Atabey“ und „Altes Mädchen“ ins Spiel, denn aus ihren Flugrouten, die per GPS aufgezeichnet wurden, sind die Notationen der Gesangsstücke abgeleitet, die während der insgesamt zehn Performances von einem Sänger oder einer Sängerin der Synagoge aufgeführt werden. Bei der Vernissage, zu der sich zahlreiche Besucherinnen und Besucher eingefunden hatten, waren Countertenor Daniel Gloger und Bassbariton Pascal Zurek parallel im Innenraum und außen im Einsatz.
25 Minuten dauerte der Vortrag, in dessen Verlauf die beiden Sänger gurrten, raunten, zischten und unterschiedlichste Töne von sich gaben, als sie die digital codierte Information in eine sinnlich erfahrbare Form übertrugen. Als wahre Stimmakrobaten erwiesen sich die Beiden, die bei den Zuhörenden im besten Fall eine Kette von Assoziationen in Gang setzten, bei dem ein oder anderen aber auch merkbares Unverständnis auslösten.
Pulheim: Überzeugende Idee
Nach dem Ende der Aufführung entließen Orcun Yayla und Manfred Schlotmann von der Reisetaubenvereinigung Frechen-Köln 1894 ihre Vögel mit dem Ruf „Guten Flug“ aus ihren Käfigen in die Freiheit. Ihr Flugverlauf wird die Grundlage für die folgenden Gesangsstücke bilden. Pulheims Bürgermeister Frank Keppeler dankte Olaf Nicolai für seine „poetische Realisierung einer überzeugenden Idee“.
Jasmina Merz, Leiterin Visuelle Kunst der Kunststiftung NRW, die zusammen mit der Kultur- und Umweltstiftung der Kreissparkasse Köln zu den Förderern des Synagogenprojekts gehört, zeigte sich beeindruckt von dem Vertrauen, das dem Künstler entgegengebracht wurde. „Olaf Nicolai fordert Denkarbeit ein“, hatte Daniela Zyman von der Thyssen-Bornemisza Art Contemporary in ihrer Einführung betont.
Seine Werke seien „labyrinthische Erkundungsreisen“ und beruhten auf „beziehungsreichen Verdichtungsverfahren“. „Womöglich hören wir die Geschichte der Synagoge mit“, so die Kunsthistorikerin. Das Synagogenprojekt soll zukünftig neu aufgestellt und weiter entwickelt werden, teilte der Bürgermeister mit. Mit einem erweiterten Spektrum, wie etwa einem zusätzlichen Vortragsprogramm, solle die Verbindung in die Stadtgesellschaft vertieft werden, so Keppeler.
Dabei soll der Künstler Mischa Kuball als langjähriger künstlerischer Berater an exponierter Stelle weiterhin mitwirken. „Die Synagoge wird ein Ort der Begegnung bleiben“, bekräftigte Luzia Kilias, die Vorsitzende der Initiative für zeitgenössische Kunst und Musik Pulheim.
Vier Fragen an den Olaf Nicolai
Olaf Nicolai, Jg, 1962, ist der 27. Künstler, der eine ortspezifische Arbeit für die Synagoge geschaffen hat. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen internationalen Einzelausstellungen gezeigt. Er lebt in Berlin. Hanna Styrie sprach mit dem Konzeptkünstler.
War Ihnen das Synagogenprojekt bekannt und haben Sie sofort zugesagt, als man Sie angefragt hat?
Olaf Nicolai: Ich habe viel darüber gelesen, das Projekt ist ja sehr renommiert. Und ich war hier vor Ort, als Rosemarie Trockel eine Arbeit für die Synagoge realisiert hat. Deshalb brauchte ich nicht nicht lange zu überlegen.

Der Künstler Olaf Nicolai.
Copyright: Hanna Styrie
Wie haben Sie Ihre ortsspezifische Arbeit entwickelt?
Ich habe mir viel Zeit genommen, aber mir war schnell klar, dass ich das Moment der sozialen Architektur, in der Menschen zusammenkommen, erlebbar machen wollte. Dann habe ich von den Brieftauben im Rheinland gehört und bin auf das Zitat im Talmud gestoßen. Da hat es Klick gemacht. Die Projektleiterin Angelika Schallenberg hat dann den Kontakt zu den Brieftaubenzüchtern hergestellt. Ich hätte mich allerdings nicht gewundert, wenn einer der Verantwortlichen gesagt hätte: „Der spinnt“.
Die Taube ist das Symbol für Frieden. Hat der Krieg im Gazastreifen bei Ihren Überlegungen eine Rolle gespielt?
Nein, ich habe mich viel mehr an die Arche Noah erinnert, zu der die Taube nach ihrer Aussendung mit einer Nachricht zurückkehrt. Für mich stand eher der Vogelflug im Mittelpunkt, ich wollte die Taube zum Akteur machen.
Wie reagieren Sie auf die Unwägbarkeiten, die Ihr Konzept beinhaltet?
Die Offenheit lässt einen nervös werden, aber das gehört dazu. Jede Performance ist einmalig und nicht wiederholbar. Mit den Sängern, denen die grafischen Notationen als Grundlage für ihren Auftritt dienen, habe ich schonbei dem Projekt „Escalier du chant“ in der Pinakothek der Moderne in München 2011 zusammengearbeitet. Da waren die Ergebnisse ebenso wenig absehbar wie bei der jetzigen Arbeit für die Synagoge Stommeln.
Weitere Performances
Bis September sind acht weitere Performances in der Synagoge, Hauptstraße 85a, geplant mit Andreas Fischer (Samstag, 28. Juni, 17 Uhr, und Sonntag, 13. Juli, 15 Uhr), Daniel Gloger (Samstag, 28. Juni, und Sonntag, 29. Juni, jeweils 17 Uhr), Pascal Zurek (Sonntag, 20. Juli, 15 Uhr) und der Mezzosopranistin Truike van der Poel (Sonntag, 31. August, 15 Uhr). Die Altistin Noa Frenkel singt am Sonntag, 7. September, 15 Uhr, und gemeinsam mit Pascal Zurek am Sonntag, 21. September, jeweils 15 Uhr. (mma)