Zierkirschen in BonnBlütezeit fürs Küssen und Knipsen

Seit einigen Jahren wird in der Bonner Altstadt das „Kirschblütenfest“ gefeiert, ein großes Straßenfest. Das fiel in diesem Jahr allerdings auf den 11. April – und da war von den Blüten der Zierkirsche noch gar nichts zu sehen.
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Bonn – Flaschensammler Max sitzt neben der an die Römer erinnernden Jupitersäule in der Bonner Heerstraße und ist der Einzige, der nicht ausflippt. Er raucht ruhig und genussvoll, als ob ihn das rosa Blütenmeer nicht sonderlich berührte. „Schön isses!“, sagt er dann doch, nickt und schweigt wieder. Alle um ihn herum flippen aus an diesem sonnigen Nachmittag im April.
Sie tun es im Sitzen und Knien, im Stehen, auf dem Bauch oder auf dem Rücken liegend, einhändig, beidhändig, allein, zu zweit, zu dritt und zu viert. Menschen fotografieren Kirschblüten, Menschen fotografieren Menschen vor Kirschblüten, Menschen lichten Leute ab, die Freunde fotografieren, die unter Kirschblüten stehen. April in Bonn. Hashtagkibo15.
Das Kirschblütenfest in der Bonner Altstadt hat zwar vor zwei Wochen noch ohne wirkliche Pracht stattgefunden – aber was bedeutet das angesichts des Cherry-Blossom-Hypes im Internet. Ashton Kutcher soll schon über Bonns Blütenrausch getwittert haben (wann, lässt sich nicht klären, es erzählt aber gerade jeder jedem), die „Vogue“ soll vor ein paar Tagen gerade Modefotos hier aufgenommen haben (lässt sich nicht verifizieren).
Und seit ein paar Tagen behauptet jemand, die Allee gehöre zu den schönsten Alleen der Welt – und liege auf Platz zehn der Straßen, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt. Woher das Ranking stammt? Egal.
Wenn es noch ein paar Tage wacker behauptet wird, ist Bonn einen nicht mehr zu tilgenden Superlativ reicher. Und dann kommen noch mehr Touristenbusse angerollt. Und noch mehr ausländische Gruppen bevölkern das „Café Blüte“. Wer nicht unter Kirschblütenallergie leidet, muss in diesen Tagen in diesem Altstadtviertel ganz einfach heiter und glücklich sein. Schmucke zwei- und dreistöckige Jahrhundertwendehäuser reihen sich aneinander in diesem früheren Arbeiter- und Handwerkerviertel, das in den 80er Jahren nicht nur das originale Kopfsteinpflaster zurück erhielt, sondern auch mit der Pflanzung von Japanischen Zierkirschen gesegnet wurde.
Stadtplanerin Brigitte Denkel – seit 2013 im Ruhestand – koordinierte die gesamte Nordstadtsanierung und gilt als Mutter der Alleen. Inzwischen wird alljährlich ein Kirschblütenfest organisiert und der mittlerweile 7. Kirschblüten-Fotowettbewerb. Perfekte Planung also? Mitnichten. Die Bonner Ingenieurin gibt zu, dass das Blütenglück einem Zufall entsprungen ist. Die Anwohner hatten Angst vor zu großen dunklen Bäumen, die zudem Parkraum kosteten. Die Wahl fiel auf Weißdorn – doch der war wegen einer Pilzerkrankung in den Baumschulen der Region gerade Mangelware. Also Zierkirschen. Dass die sich in derart prächtige Blütenbaldachine verwandeln würden, hätte Brigitte Denkel selbst nie gedacht. Genauso wenig, dass es inzwischen einen solchen „Hype“ um sie gibt.
Er beginnt im März in der Michaelstraße. Dann wagt es ein geschützt stehender Kirschbaum vor dem Frauenmuseum als erster. Rosental und Krausfeld gesellen sich später dazu, bis dann – Mitte April – die Kirschbäume in der Breite Straße und der Heerstraße in voller Blüte stehen. Wobei, wie der Friseur an der Ecke Heerstraße/Georgstraße berichtet, die Breite Straße etwas schlechter dran sei, blütentechnisch: „Die haben da zu viel Schatten vom Stadthaus, und da ist es windiger.“ Dass die Menschen zu Scharen durch ein Viertel ziehen, lässt den Mittsechziger kalt. Nein, genervt ist er nicht – der Zauber ist ja nach zwei Wochen wieder vorbei. „Am besten“, sagt er zum Abschied, „Sie fotografieren abends, dann leuchtet die Sonne den Straßenverlauf am besten aus.“
Germaine stammt aus Chile, Catharina aus Kolumbien, beide leben in Köln, sind mit dem Rad hierhergekommen, „to spend a nice day“ – und sie finden das ganze selbstverständlich „overwhelming“ – überwältigend. Ganz andächtig und still werden die Menschen tatsächlich, wenn sie um die Ecke biegen und sich der Blick öffnet in den schier unendlichen rosa Tunnel aus zarten Blütenkugeln.
Erst küssen, dann knipsen und dann wieder küssen: Viele Paare entscheiden sich für diese Variante. Besonders Japaner, die zu Hause Hanami feiern, das Kirschblütenfest, sollen schwärmen für den Teil der Bonner Altstadt, in der Flower-Power eine ganz eigene Dimension bekommt. Die ersten sieben Asiaten, die man fragt, stammen allerdings aus Braunschweig, Korea, China oder Thailand. Fast alle sind übers Internet, über Facebook oder Freunde auf das Bonner Phänomen aufmerksam geworden. Sie üben sich in den Disziplinen Selfie solo, Selfie zu zweit, Selfie mit Selbstauslöser sowie Selfie gebückt, gehockt und seitwärts-auswärts gedreht. Dann kichern sie und gucken sich die Bilder an und versenden sie. Danach wird die Allee gefilmt, zurzeit ist es angesagt, sich um die eigene Achse zu bewegen und dabei langsam in die Knie zu gehen. Der Selbstversuch ergibt Bildsequenzen mit psychodelischer Wirkung.
Die Ehrgeizigen unter den Touristen bauen Stative auf, schrauben hochwertige Kameras darauf und kümmern sich nicht um den DHL-Wagen, der sich eigentlich seinen Weg bahnen will. So ein Bild mit allen Aspekten braucht Zeit, zumal sich die Mädels nicht ganz so geschickt in Pose stellen können wie Models – auch wenn sie alle so aussehen wollen.
Zwei Wochen lang herrscht hier Verkehrsberuhigung der anderen Art. Blütenfans erobern die ganze Straße und geben das Tempo vor. Gemächlich. Die Köpfe: Mit einer gewissen Tendenz zur Nackenstarre. Der Rempelfaktor: hoch. Die Stimmung: gelassen.
Endlich eine Japanerin – mit Hut und Schleier, ganz in zartesten rosé Chiffon gehüllt, sehr elegant –, sie und ihr Ehemann stammen tatsächlich aus Tokio, ja, sie sind extra für einen halben Tag nach Bonn gereist. Den Tipp, das Faszinosum von der Jupitersäule aus zu fotografieren, haben sie natürlich dem Reiseführer entnommen. „Famous!“ sei Bonn. Dass es mal die Hauptstadt war, wissen sie nicht, sie haben ein Hotel in Düsseldorf gebucht, dort sei das Essen besser. Dass in der Altstadt Menschen aus 90 Nationen leben und die Gastronomie so vielfältig wie aufregend ist – von Vietnamesisch über Türkisch bis zu Syrisch – das entgeht ihnen. Das Café „Frau Holle“ auch. Dabei würden ihnen Miniatur-Drehorgeln auf dem Damenklo bestimmt gut gefallen.
Die Nummer neun unter den befragten Japanern ist die schönste Frucht der Fragen-Ernte: Iwao Ishikawa stammt von der nördlichen japanischen Insel Hokkaido, er ist mit seiner Bekannten Edith Kastner unterwegs und lächelt zufrieden: Eine feine Sache sei das hier. Das Besondere an diesem Blütenpilgerer: Er wohnt seit 40 Jahren in Köln, fährt aber jedes Jahr nach Japan. Zum Kirschenernten. Seine Familie besitzt dort, in Übersee, eine Kirschplantage.
Die Beeren aus der Heerstraße kann man natürlich nicht essen, sonst wüchsen sie ja nicht an Zierkirschen. Vögel verspeisen die Früchte, was sie am Ende auf den Autos hinterlassen, gefällt den Anwohnern weniger, aber auch das gehört zu einer endlichen Phase.Woher kommt plötzlich dieses Gebrumm aus dem heiteren Himmel? Von einer Fotodrohne. Hoffen wir, dass sie von einem ehrgeizigen Blütenfreund losgelassen wurde. In der Straße Im Krausfeld – hier wachsen keine Zierkirschen – prangt an einem Baum ein Schild: „Dieser Bereich ist videoüberwacht“. So ernst, wie das Schild sich liest, ist es auch. Es gilt das ganze Jahr. Man senkt den Blick und stößt auf eine Bronzetafel, von der man lernt: Hier führte einst eine römische Wasserleitung längs. Was ganz anderes als Kirschblüten plötzlich. Der Blick geht wieder nach oben: Das Bonner Frauenmuseum. So enden rosa Träume.
Haikus sind nach strengen Regeln verfasste japanische Gedichte mit stets drei Zeilen und genau festgelegter Silbenzahl pro Zeile