Berührende Kraft der alter GeschichtenMichaela Bourauel ist Märchenerzählerin

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Michaela Bourauel

Märchenerzählerin Michaela Bourauel setzt bei ihren Veranstaltungen diverse Utensilien wie etwa diese Zimbeln ein, sie verkleidet sich aber nicht.

Eitorf – Wie ihr persönliches Märchen beginnt? Michaela Bourauel zögert keine Sekunde und erzählt: „Es waren einmal eine Mutter und ein Vater. Die haben ihrem Kind jeden Abend beim Zubettgehen eine Geschichte vorgelesen.“ Dieses Gute-Nacht-Ritual prägte sie: Heute ist die 53-Jährige professionelle Märchenerzählerin, die Klassiker der Gebrüder Grimm, aber auch unbekanntere Geschichten einem erwachsenen Publikum präsentiert – bei der Volkshochschule Rhein-Sieg, auf Senioren-Nachmittagen, aber auch zu Hause in Eitorf-Wassack, wo sie mit ihrem Mann Dieter einen Weinhandel betreibt.

Vom Wohnzimmer aus geht der Blick in den Garten mit Apfel- und Birnbäumen. Die reifen Früchte inspirieren Michaela Bourauel, ihre Besucherin mit dem Märchen „Frau Holles Apfelgarten“ vertraut zu machen. „Die Holle ist ein Sinnbild für Mutter Natur, die nähren, aber auch zerstören kann. Diese Urkraft spielt in vielen Märchen eine Rolle.“ Wer der Erzählerin lauscht, gerät in den Sog ihrer weichen und wohlklingenden Stimme. „Die ist mir geschenkt worden“ – im Gegensatz zur zweijährigen Ausbildung, die sie bei der Overather Märchenpädagogin Monika Pieper absolviert hat.

Urkraft Mutter Natur

„Märchen bieten einen unerschöpflichen Schatz“, sagt die gelernte Industriekauffrau und -wirtin, die ehrenamtlich im Hospizdienst Sankt Augustin und auch als Trauerbegleiterin arbeitet. Diesen Schatz hebt sie, indem sie die Geschichten entweder aus dem Stegreif erzählt oder im Wortlaut auswendig vorträgt. „Den kennen die meisten bei den Grimmschen Märchen genau. Deshalb ist es wichtig, sich an die Schriftform zu halten. Wobei der Text nicht ein- und für allemal im Gedächtnis haften bleibt. Ich muss ihn von Zeit zu Zeit auffrischen.“

Immer wieder macht Michaela Bourauel die Erfahrung, „dass ich als Märchenerzählerin anfangs belächelt werde. Aber mit den ersten Sätzen werden die Leute ganz still, manche sind sehr berührt; es fließen sogar Tränen.“ Denn die Geschichten, früher abends am Feuer erzählt und von Generation zu Generation weitergegeben, wecken verschüttete Erinnerungen, sprechen das Unbewusste und existenzielle Konflikte an.

Wenig Requisiten

So wie „Sterntaler“, eines ihrer Lieblingsmärchen. „Zunächst mochte ich diese Geschichte nicht. Als ich sieben Jahre alt war, starb mein Vater. Da war meine wohlbehütete Kindheit zu Ende. Dieses Märchen, das von einem Mädchen handelt, das alles verliert, hat bei mir wieder Ängste ausgelöst.“ Doch weil Märchen für Heldin oder Held gut ausgehen, sei für das Publikum ein Blick in die eigene Vergangenheit wieder möglich, manchmal sogar mit klärender Wirkung.

Atmosphäre zaubert die Eitorferin mit wenigen Requisiten: grüner Samtstoff, Zimbeln, Schellen, Kerzen, ein Korb Äpfel und vergilbte Fotos oder Kieselsteine, die sie zu „Hänsel und Gretel“ zwischen die Stuhlreihen streut. Es kann aber auch eine Blume sein, die zum Märchen von der „Blauen Rose“ passt. „Ich kostümiere mich allerdings nicht, denn ich möchte authentisch bleiben“, betont sie.

Kinder nehmen Gewaltszenen nicht persönlich

Die Märchenerzählerin erlebt auch, dass „die Zuhörer schlucken, wenn ich an die Stelle komme, an der die Tauben Aschenputtels Schwestern die Augen auspicken“. Grausamkeit und Gewalt sind Bestandteile vieler Märchen. Menschen verbrennen („Hänsel und Gretel“), müssen sich in glühenden Pantoffeln zu Tode tanzen („Schneewittchen“) oder werden in ein mit Nägeln gespicktes Fass gesteckt („Die Gänsemagd“).

In den 80er und 90er Jahren seien Märchen deswegen verpönt gewesen, sagt Bourauel. „Inzwischen hat man aber festgestellt, dass gerade Kinder die Gewaltszenen nicht wörtlich nehmen, die auch nie im Detail geschildert werden. Es geht um die Botschaft: Das Böse darf nicht weiter tätig werden.“ Dennoch, „Blaubart“ zum Beispiel sei nicht gerade ihr Lieblingsmärchen. „Aber auf Wunsch würde ich es trotzdem erzählen.“

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Doch lieber versetzt sie ihr Publikum auf die unbekannte „Insel der Gefühle“ oder unternimmt eine poetische Reise nach Japan zum „Dankbaren Baum“. Ihre Bibliothek mit mehreren Hundert Märchenbüchern macht es möglich, dass Michaela Bourauel aus einem großen Fundus wählen und Motto-Veranstaltungen zusammenstellen kann, etwa zu den Themen Liebe und Freundschaft, Tod und Trauer. Und die uralten Geschichten begleiten auch Weinproben am großen Tisch, an dem die Erzählerin „Das kluge Gretel“ mit Witz und List triumphieren lässt.

Die ökumenische Initiative Sankt Augustin lädt am Freitag, 30. Oktober, um 19 Uhr zum Märchenabend ins Bonhoeffer-Haus. Anmeldung unter 02241/29792.

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