InterviewSuchthilfe der Diakonie Rhein-Sieg hält bisherige Cannabis-Politik für „gescheitert“

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Ein Mann zündet einen Joint an.

Die Diakonie An Sieg und Rhein begrüßt die Entkriminalisierung von Cannabis-Konsumenten in Deutschland. (Symbolbild)

Seit 2018 leitet Jürgen Graff die Suchthilfe der Diakonie An Sieg und Rhein. Was er sich vom Kreis und den Kommunen wünscht.

Seit 2018 leitet Jürgen Graff die Suchthilfe der Diakonie An Sieg und Rhein. Mit ihm sprach Dieter Krantz.

Sind 50 Jahre Suchthilfe ein Grund zum Feiern?

Jürgen Graff: Ein klares Ja! Wir haben von Beginn an vorurteilsfreie akzeptierende Hilfeangebote nahe bei den Menschen entwickelt und diese immer wieder angepasst. Wir haben vielen Menschen beim Weg in ein besseres Leben geholfen, was manchmal das reine Überleben ist. In den 50 Jahren sind wir fachlich nie stehengeblieben, waren oft vorne dabei bei der Entwicklung und Etablierung neuer Hilfen – auch nicht immer unumstrittener Hilfen wie Methadonsubstitution oder Drogenkonsumraum.

Hilfen für suchtmittelkonsumierende Menschen sind weiterhin, wie uns der schreckliche Anstieg der Drogentoten in NRW in den letzten Jahren drastisch vor Augen führt, höchst notwendig und weiter zu entwickeln.

Was sind die aktuellen Herausforderungen, denen sich die Suchthilfe der Diakonie gegenüber sieht? Welche Probleme sind nach wie vor nicht gelöst oder überwunden?

Die Zahl der Drogentoten ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Wir müssen niedrigschwellige Angebote und Streetwork weiter ausbauen, auch die Möglichkeiten zum Drug Checking sollten gegeben und ausgebaut werden. Letzteres ist ein sinnvolles Angebot, um die Konsument*innen aufzuklären, was der Inhalt ihrer erworbenen Substanzen ist, wie stark die Dosis ist.

Das kann dazu beitragen, dass es zu weniger Überdosierungen und Todesfällen kommt. Ein weiteres drängendes Problem ist die immer noch zunehmende Obdachlosigkeit unter suchtmittelkonsumierenden Menschen. Ein weiteres Thema ist der Kinderschutz: Etwa jedes sechste Kind in Deutschland lebt in einer Familie, in der Drogenkonsum oder massiver übermäßiger Alkoholkonsum stattfindet.

Welche Rolle spielen neue Drogen, Fentanyl oder die „Zombiedroge“?

Nein, Fentanyl ist bisher kein großes Thema bei uns in der Szene. Unsere Besucher konsumierten auch nicht die sogenannte „Zombiedroge“, also mit Xylazin gemischtes Fentanyl, das in den USA zu vielen Todesfällen führt. Das heißt allerdings nicht, dass wir nicht aufmerksam sein müssen. Grundsätzlich ist es sinnvoll, Drug Checking und Schnelltest-Angebote weiter auszubauen.

Wie steht die Suchthilfe zu einer Legalisierung von Cannabis?

In unseren Beratungsstellen sind die Cannabiskonsumierenden eigentlich schon immer eine der Hauptgruppen. Cannabis wird in allen Bevölkerungsgruppen konsumiert. Die bisherige restriktive Politik ist eindeutig gescheitert und wir begrüßen eine Entkriminalisierung der Konsumierenden. Davon versprechen wir uns auch, dass sie mehr Menschen ermöglicht, Hilfe anzunehmen, wenn sie sie benötigen.

Die Suchthilfe der Diakonie feierte ihr 50-jähriges Bestehen. Der Leiter Jürgen Graff.

Die Suchthilfe der Diakonie feierte ihr 50-jähriges Bestehen. Der Leiter Jürgen Graff.

Wichtig ist, dass die Legalisierung unter bestimmten Bedingungen erfolgen muss. Die Abgabe sollte nicht dem freien Markt überlassen werden. Vor allem aber müssen Kinder und Jugendliche vor Cannabis und den Risiken des Konsums geschützt werden. Auch ein Ausbau der bisher spärlichen Suchtprävention ist hierbei dringend notwendig.

Haben die nicht stoffgebundenen Abhängigkeiten wie Konsum-, Medien- oder Spielsucht zugenommen?

Studien zeigen, dass der Anteil der Menschen, die an Glückspielen teilnehmen, abgenommen hat. In der Beratungspraxis sind die Anfragen konstant. Angestiegen sind in den letzten Jahren die Fragen von Online-Glücksspieler*innen. Bei Kindern und Jugendlichen ist in der Pandemie, so zeigen es Untersuchungen, die problematische Internetnutzung deutlich angestiegen.

In der Beratungspraxis sind Anfragen von Kindern und Jugendlichen eher selten. In der Angehörigenberatung spielt das Thema eine zunehmende Rolle. Die Suchthilfe ist zurzeit dabei altersentsprechende Beratungsangebote für Kinder und Jugendliche zu entwickeln.

Sind Sie zufrieden mit der Unterstützung durch Politik und Verwaltung – vielleicht auch über die Finanzen hinaus?

Grundsätzlich ja, der Rhein-Sieg-Kreis und seine Gemeinden sind verlässliche Partner. Zusammen mit dem Kreisgesundheitsamt haben wir zum Beispiel die niedrigschwelligen Angebote Kontaktladen und Drogenkonsumraum, das Arbeitsheranführungsprojekt Rhein-Sieg-Kreis-Feger und die Hilfen für Kinder suchtkranker Eltern entwickelt.

Wenn wir uns was wünschen dürften, dann dies: Ausbau von Streetwork im Kreisgebiet, um näher bei den Menschen in ihrer Szene zu sein, und eine Ausweitung der Öffnungszeiten für Kontaktladen und Drogenkonsumraum. Besonders wünschen wir uns den Ausbau der Hilfen für Kinder und Jugendliche, zum einen in präventiver Hinsicht, zum anderen in der Erweiterung der Angebote für Kinder aus suchtbelasteten Familien.

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