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Zweiter WeltkriegDer Tod im Kalltal

Lesezeit 7 Minuten

Gedenkstätte am Ochsenkopf, wo die Gebeine von Robert Cahow gefunden worden .

Hürtgenwald – Fahren Sie da vorne rechts ran“, sagt Dieter Heckmann, etwa 200 Meter, nachdem die Landstraße in Richtung Kalltal und Rollesbroich von der B 399 abgezweigt ist. Wir parken das Auto, und spazieren in das lichte Waldgebiet hinein, das den Namen „Ochsenkopf“ trägt. Nach ein paar Minuten werden wir von einem sportlich über den Waldweg bretternden Ford Transit mit Neusser Kennzeichen zur Seite genötigt.

„In Nordrhein-Westfalen ist das verboten“, sagt Heckmann, und meint damit nicht das Befahren von Forstwegen, sondern das Umgraben des Waldbodens auf der Suche nach Metallteilen militärischen Ursprungs. Heckmann, auf dessen Visitenkarte „Militärhistorische Führungen“ steht, ist Vorstandsmitglied im Geschichtsverein Hürtgenwald, über die Sammler mit ihren Metallsonden kann der drahtige 72-Jährige nur den Kopf schütteln. Ziel unserer Wanderung ist eine Gedenkstätte im Wald, ein sanfter Hügel aus Steinen, dekoriert mit Kränzen und Grablichtern. Linker Hand steht ein hölzernes Kreuz mit einem darüber gestülpten Soldatenhelm. „Ist eine Attrappe“, sagt Heckmann, mehrere Originalstahlhelme waren zuvor von Waldräubern gestohlen worden.

Kreuz und Kränze in der Nähe eines gesprengten, längst mit Moos überwachsenen Westwall-Bunkers erinnern an Robert Cahow, der nach heftigen Gefechten am Ochsenkopf seit dem 13. Dezember 1944 vermisst worden war, und dessen sterbliche Überreste erst 56 Jahre später zufällig gefunden wurden. Jedes Jahr im Juni gibt es eine Gedenkfeier im Wald, in diesem Sommer war auch Cahows jüngerer Bruder Donald dabei. Vier von acht Söhnen der Familie aus Wisconsin sind im Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden gefallen.

Die Kämpfe zwischen der US-Armee und der Wehrmacht im Herbst 1944 – vor allem die Allerseelenschlacht um Vossenack und Schmidt – haben nicht nur im Wald in der Nordeifel jene Spuren hinterlassen, die Militaria-Fanatiker ins Gelände treibt. Auch im kollektiven Gedächtnis der Soldaten auf beiden Seiten sind die Kriegswochen im Hürtgenwald unvergessen. Von überlebenden US-Soldaten wurde das Gebiet wegen der hohen Verluste und des widrigen Wetters als „Death Factory“ und „Hell of Icicles“ (Todesfabrik und Eiszapfenhölle) bezeichnet. Von US-General James Gavin ist das vernichtende Urteil überliefert: „Es war die unproduktivste und am schlechtesten geführte Schlacht, die unsere Armee geschlagen hat.“ Und der prominenteste Augenzeuge der Kämpfe, Ernest Hemingway, notierte später: „In Hürtgen gefroren sie alle einfach, und es war so kalt, dass sie mit roten Gesichtern gefroren.“

Die Opferzahlen der Allerseelenschlacht sind auf amerikanischer Seite gut dokumentiert. Binnen einer Woche verzeichnete die US-Armee knapp 6200 Verluste – tote, verwundete, vermisste oder in Kriegsgefangenschaft geratene Männer. Auf deutscher Seite schätzt man die Verluste auf etwa 3000 Mann.

Ein Experte für die Kämpfe im Herbst 1944 ist Dr. Christoph Rass, der an der Uni Osnabrück Neuere Geschichte lehrt. Seine Kurzfassung der Ereignisse: „Anfang November erhielt die 28. Infanteriedivision den Auftrag, die Ortschaften Vossenack, Kommerscheidt und Schmidt einzunehmen und dabei das tief eingeschnittene Kalltal zu durchschreiten. Die Kämpfe dauerten zehn Tage und entwickelten sich zu einem der größten operativen Versagen der amerikanischen Armee im Zweiten Weltkrieg. Die Angriffsziele konnten nicht erreicht werden.“

Zwar gelingt es dem 112. Regiment der US-Armee, Vossenack einzunehmen und von dort über den schmalen, unwegsamen „Kall- Trail“ nach Kommerscheidt und Schmidt vorzustoßen (3. November), doch einen Tag später werden sie von einer deutschen Übermacht, angeführt von der Windhund-Panzerdivision, vertrieben. Die Kämpfe verlagern sich wieder nach Vossenack, wo die Frontlinie zeitweise entlang der Pfarrkirche verläuft.

Seit den 50er-Jahren liegen auf den Soldatenfriedhöfen in Vossenack und Hürtgen 5348 Tote, darunter auch etliche Zivilisten, die nach Kriegsende in dem hochgradig verminten Gelände ums Leben kamen. Vor allem im heißen Sommer 1947 stand vielerorts der Wald in Flammen, weil sich amerikanische Phosphormunition von selbst entzündet hatte. Der einstige Kriegsschauplatz zog neben vielen US-Veteranen immer auch Menschen mit einem fragwürdigen Geschichtsbild an, so dass die Gemeinde Hürtgenwald in Absatz 4b ihrer Friedhofssatzung klarstellte: „Insbesondere ist nicht gestattet, Uniformen, Uniformteile oder gleichartige Kleidungsstücke als Ausdruck gemeinsamer politischer Gesinnung zu tragen.“

Unweit der Vossenacker Kirche unterhält der Geschichtsverein Hürtgenwald seit 2001 ein Museum: Landkarten, Fotos, Zeitungsartikel und militärische Fundstücke, die nach 1945 aus der Eifeler Erde geborgen wurde, sind in zwei Pavillons ausgestellt. „Es ist schwer, so ein Kriegsmuseum in Deutschland zu betreiben“, klagt Heckmann, vor allem von linken Historikern fühlt sich der Geschichtsverein unfair behandelt. Etwa 4000 Besucher kommen pro Jahr in das Museum, Hürtgenwald-Veteranen sind nur noch sehr selten darunter. „Die Wenigen, die noch leben, sind heute 90 Jahre und älter“, sagt Dieter Heckmann, in ein paar Jahren sei dieses Kapitel der Kriegsgeschichte wohl unwiderruflich geschlossen.

Historiker Christoph Rass ist da anderer Meinung. „Das von Zeitzeugen abhängig zu machen, ist Unfug. Natürlich ist die individuelle biografische Erfahrung in Interviews und Erzählungen eine wichtige Quelle für die Geschichtswissenschaft. Aber sie ist nur eine Quelle neben ganz vielen anderen.“ Nach seiner Einschätzung sei zwar viel geschrieben worden über die Schlacht im Hürtgenwald, aber „da gibt es ganz wenig wissenschaftliche Literatur und ganz viel Legende, Mythos, Hörensagen.“ Mit Blick auf den Stand der Forschung sagt Rass: „Wir haben so wenig verlässliches Material, dass man sagen muss: Diese Geschichte ist eigentlich noch gar nicht geschrieben.“ Vor allem amerikanische Militärwissenschaftler hätten sich zwar wieder und wieder mit den Kämpfen auseinandergesetzt, doch zumeist nur mit der Fragestellung: Wie konnte das passieren? „Das katastrophale Scheitern der 28. Infanteriedivision mit ihrem Angriff durch das Kalltal war für die US-Armee auch ein Lehrstück über das Versagen eines Großkampfverbandes im Einsatz.“

Rass warnt vor dem pauschalen Urteil, die Amerikaner hätten sich zahllose taktische Fehler geleistet. Seine Einschätzung: „Der Durchbruchversuch südlich von Aachen in Richtung der Kölner Bucht ist der erste große Anlauf auf die Reichsgrenze unter amerikanischem Oberbefehl. Die Amerikaner müssen sich neu organisieren nach dem sehr schnellen Vormarsch durch Belgien und Frankreich. Sie haben bestimmte Befürchtungen hinsichtlich einer Verstärkung des deutschen Widerstands an der Reichsgrenze. Sie überschätzen den Westwall. Und sie unterschätzen sehr stark das Gelände, bislang sind sie ja nur durch flaches Land vorgerückt.“ Der Westwall, von den Amerikanern „Siegfried Line“ genannt, hat im Herbst 1944 zwar militärisch nur noch einen begrenzten Wert, aber eine immense psychologische Wirkung. In diesem Punkt sind die Alliierten auf die Nazi-Propaganda hereingefallen.

Dass die Amerikaner auch wegen unzureichender Landkarten im Hürtgenwald scheitern, hält Rass nach eigenen Recherchen im US-Nationalarchiv im Washington für zweifelhaft. „Wenn man sich die damaligen Gefechtskarten im Maßstab 1:25.000 anschaut, muss den Amerikanern eigentlich klar gewesen sein, in was für ein Gelände sie vorrücken.“ Dass der schmale und schlammige Kall-Trail kaum geeignet war für die schweren Sherman-Panzer, sei den Amerikanern wohl klar gewesen. Doch nachdem ein Vorstoß des 109. US-Regiments bei Hürtgen im Minengürtel der „Wilden Sau“ blutig endete, war dieser Pfad der einzige Zugang zum Operationsziel.

Das Gelände zwischen Vossenack und Schmidt ist für die Geschichtswissenschaft eine Schatztruhe, findet Christoph Rass. Er bedient sich dabei der „Magnetometrie“, einer Art Bodenscanner. Mit seinem Forscherteam durchsucht Rass ein Gebiet östlich von Vossenack, 800 mal 800 Meter, heute Maisfelder und Weideland. Dort hatten sich im November 1944 Teile des 112. Infanterieregiments eingegraben, in Schussweite der deutschen Artillerie in Kommerscheidt.

Nach drei Tagen starkem Beschuss flohen die US-Soldaren in Panik aus der Kampflinie. „Wir untersuchen die menschengemachten Veränderungen in den magnetischen Eigenschaften des Unterbodens“, erklärt Rass die Methode. „Wir erkennen Granattrichter, Stellungslöcher und ähnliche Dinge, die man heute an der Oberfläche gar nicht mehr sieht.“ Der Historiker nennt es „die Präsenz des Schlachtfelds im Boden“.

In Ergänzung zu den Scans werten die Forscher die amerikanischen Akten aus, „die sehr detailliert Auskunft geben und bisher kaum systematisch berücksichtigt worden sind.“ Die Untersuchungen seien noch nicht abgeschlossen, aber manche Legenden, die sich um die Schlacht im Hürtgenwald ranken – zum Beispiel über die Kämpfe im Inneren der Vossenacker Kirche –, „erscheinen in den US-Gefechtsakten sehr viel weniger dramatisch.“