30 Jahre nach PogromRassismus – Unter der Oberfläche brodelt es in Rostock weiter

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Steinmeier Sonnenblumenhaus

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor dem Sonnenblumenhaus 

Rostock – Vor drei Jahrzehnten machten an ein paar Tagen im August Rechte unter dem Beifall von Zuschauern Jagd auf Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen. Besuch an einem Ort, der den deutschen Blick auf Rassismus verändert hat.

Dass die Sache längst nicht ausgestanden ist, kann man auch an Mohammed Njie sehen. Der junge Flüchtling kam vor fünf Jahren aus Gambia nach Rostock. In der Hansestadt hat er einerseits Glück gehabt. Njie kickt beim Fußballverein Internationaler FC Rostock, und er kickt gut. In Spielberichten taucht Njie häufiger als Torschütze auf. Auf einem Foto, das im Netz leicht zu finden ist, sieht man, wie er mit einem eleganten Schuss den Keeper des FC Rostock United bezwingt.

Lichtenhagen eins

27.08.1992: Ein Mann steht vor einem brennenden Pkw auf einer Straße am zentralen Asylbewerberheim von Mecklenburg-Vorpommern in Rostock-Lichtenhagen. 

Njie hat andererseits auch Pech gehabt. Er hatte eine Ausbildung zum Industriemechaniker begonnen und kam im Betrieb gut klar. Doch in der Berufsschule gab es unentwegt Anfeindungen. Njie brach die Ausbildung ab und hat deshalb nun auch keine Arbeitserlaubnis mehr. Der Internationale FC, der selbst mit Anfeindungen zu tun hat, gibt ihm Halt. Hier gilt das Motto: „Kein Mensch ist illegal.“

„Das kann sehr schnell wieder passieren”

Martin Quade ist Geschäftsführender Vorstand und einer derer, die den Verein seit seiner Gründung 2015 groß gemacht haben. Er kennt die Geschichte des Vereinskameraden. Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen kennt Quade nur vom Hörensagen. „Ich war damals fünf“, sagt er. Quade weiß aber eines gewiss: Was in diesen Tagen vor 30 Jahren geschah, sei „eine Mahnung, dass das sehr schnell wieder passieren kann“ – dann nämlich, „wenn man nicht aufpasst“.

Lichtenhagen heute

Das so genannte Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen.

Am Dienstag war der Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, Gast beim Internationalen FC. Der Jahrestag von Rostock-Lichtenhagen war einer der Gründe dafür. Nouripour saß mit Quade, seinem Mitstreiter Steven Schwartz und Njie auf dem Vereinsgelände mit dem grauen Schotterplatz und ließ sich die Geschichte des Klubs erzählen. Später fuhr der Fußballfan und Sohn einer iranischen Flüchtlingsfamilie zum Ort des Geschehens, dem so genannten Sonnenblumenhaus in dem Plattenbaugebiet, wo 1992 tagelang der Mob wütete. Spätestens da flossen Geschichte und Gegenwart ineinander.

Ausschreitungen vom 22. bis zum 26. August 1992

Vom 22. bis zum 26. August hatte es in dem Rostocker Stadtteil weit außerhalb des Zentrums rassistische Ausschreitungen gegeben. Rechtsradikale reisten an und verbrüderten sich mit Einheimischen, die, so Nouripour, „vier Tage lang Beifall spendeten“. Zunächst nahm der Mob in der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber Flüchtlinge aus Rumänien und dem ehemaligen Jugoslawien ins Visier. 150 Menschen gerieten in akute Lebensgefahr, nachdem die Täter das benachbarte Wohnhaus von ehemaligen vietnamesischen DDR-Vertragsarbeitern in Brand gesetzt hatten. Sie konnten sich nur aufs Dach retten.

Nouripour war als 13-Jähriger nach Deutschland gekommen. „Ich weiß noch, wie ich fassungslos vor dem Fernseher saß“, sagt er im Schatten des Sonnenblumenhauses. Sicher, es gab in jenen Jahren auch andere rassistische Angriffe, in Hoyerswerda, in Mölln oder in Solingen, in Ost wie West also. Sie kosteten, anders als in Rostock, tatsächlich Menschen das Leben. Lichtenhagen allerdings stach für den Grünen-Politiker und viele andere heraus, weil das Geschehen von johlenden Zuschauern begleitet wurde. „Das hat ganz andere Narben hinterlassen“, sagt er. Die Täter fanden Unterstützung in der Bevölkerung. So etwas schien es seit dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland nicht mehr gegeben zu haben. Der Schock saß tief. Und er sitzt bis heute.

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Die grüne Bundestagsabgeordnete Claudia Müller, die in Rostock geboren wurde und Nouripour begleitet, benennt einen Teil der Ursachen, ohne das Ereignis zu beschönigen. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus habe in den ostdeutschen Schulen nach 1945 kaum stattgefunden, sagt sie. Nach 1989 kam infolge der deutschen Vereinigung die Gesellschaft ins Rutschen. Freiheit wirkte plötzlich verstörend. Werften schlossen. Tausende verloren ihre Jobs. Viele Menschen wanderten wegen der fehlenden Arbeitsplätze gen Westen ab.

Auch litt und leidet Rostock Müller zufolge stärker unter dem, was Soziologen Segregation nennen. Begüterte und weniger begüterte Schichten siedeln sich in unterschiedlichen Stadtteilen an. Dort, wo die weniger Begüterten leben, werden Noch-Schwächere – nämlich Flüchtlinge und Migranten – leichter zu Opfern. Schließlich erwies sich die Polizei in Rostock-Lichtenhagen in jenem Spätsommer 1992 als unfähig oder unwillig, dem brutalen Treiben Einhalt zu gebieten. Im Rest der Republik löste das Ergebnis allgemeine Fassungslosigkeit aus.

Die Zivilgesellschaft hat sich weiterentwickelt

Wer heute die Gegend um das Sonnenblumenhaus in Augenschein nimmt, der bekommt einen friedlichen Eindruck vermittelt. Eine weiße Stele, vor der gelbe Rosen liegen, verweist auf das Vergangene. Es gibt einen Anbieter für Bestattungen, Ergo- und Physiotherapie, ein Corona-Testzentrum, einen Markt für Heimwerkerbedarf und einen Imbiss mit der Aufschrift „Chinapfanne“. An der nahe gelegenen Haltestellte für S-Bahnen und Regionalzüge sieht man ein entspanntes Mädchen mit Kopftuch, das nicht wirkt, als habe es Angst vor Angriffen.

Die Zivilgesellschaft habe sich im Übrigen weiterentwickelt, sagt Claudia Müller. Und bei der letzten Kommunalwahl holte die rechtsradikale AfD in der gesamten Stadt lediglich 9,6 Prozent der Stimmen. Da sieht es in den Umfragen für Sachsen und Thüringen, wo die Partei auf Platz eins rangiert, ganz anders aus.

Unter der Oberfläche brodelt es in Rostock weiter

Unter der Oberfläche brodelt es freilich weiter. Das wird beim Internationalen FC spürbar. Steven Schwartz, Leiter der Sportförderung, sagt, in anderen Vereinen gebe es viel Rassismus. Doch sie wollten Gemeinschaft leben, nicht bloß auf dem Platz. „Mein Antrieb ist, den Sport ein bisschen sozialer zu machen“, sagt er. Eines ihrer Programme in Stadtteilen wie Lichtenhagen trägt den Titel: „More than football“ – also: Mehr als Fußball. Das kommt an. Der Verein wuchs gegen den Trend auf mittlerweile 480 Mitglieder und bietet längst nicht mehr nur Fußball an, sondern auch Darts – oder Selbstverteidigung für Frauen („Girls United“), die froh sind, hier nicht „begafft zu werden“.

Das alles paart sich mit Humor. So steht auf einem der Plakate an der Vereinsgaststätte „Rote Erde“: „Durst wird durch Bier erst schön.“ Politisch und im Zweifel links sein und Spaß haben, das schließt sich hier nicht aus, sondern ist die gewollte Mischung.

Fußballclub hat mit Attacken zu tun

Allerdings hat wie gesagt nicht allein Mitspieler Mohammed Njie mit Attacken zu tun, sondern der gesamte Klub. Als einer der Spieler von der Gästemannschaft eines Tages den Platz zu sehen bekam, fragte er: „Was ist denn das hier für ein Judenrasen?“ Bei einem anderen Spiel fanden sich Scherben im Mittelkreis und später in Briefkästen. Auch tauchten mal Neonazis am Spielfeldrand auf. Schließlich gab es tätliche Übergriffe, die bisweilen einen Krankenhausaufenthalt nötig machten.

„Das Problem wächst“, sagt Martin Quade. „Das Thema wird zu wenig beleuchtet.“ Und dann war da noch die Auseinandersetzung mit dem Kreisfußballverband. Der stieß sich an dem Banner: „Kein Mensch ist illegal.“ Der Verein hat vor Gericht gewonnen. Mit anderen Worten: Sie sind hier manchmal wirklich nicht auf Rasen, sondern tatsächlich eher auf Schotter gebettet.

Und weil gerade der Bundesvorsitzende der Grünen zu Gast ist, nutzt Quade die Gelegenheit, um loszuwerden, was ihm sonst noch so auf dem Herzen liegt. Dabei fordert er unter anderem, eine Straße in Rostock nach Mehmet Turgut zu benennen. Der Kurde wurde dort am 25. Februar 2004 vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) erschossen. Die Sache mit dem Straßennamen ist in der Stadt indes umstritten, auch bei den Grünen. Manche wenden etwa ein, er sei ja erst wenige Wochen vor seinem Tod nach Rostock gezogen.

Das Thema Rassismus zieht sich wie ein roter Faden durch

Zudem will Quade von dem Hessen Nouripour wissen, warum dort die NSU-Akten nicht veröffentlicht würden. Nouripour erklärt Hintergründe und verweist im Laufe des Gesprächs unter anderem auf seinen Leib- und Magenverein Eintracht Frankfurt und dessen couragierten Präsidenten Peter Fischer. Der will keine AfD-Mitglieder im Klub und ist ebenfalls Anfeindungen ausgesetzt. So zieht sich das Thema Rassismus nach 1992, nach Rostock-Lichtenhagen, wie ein roter Faden durch.

Nachdem Nouripour vom Internationalen FC zum Sonnenblumenhaus gefahren ist und im Schatten der Bäume gefragt wird, welche Erinnerungen er mit 1992 verbindet, antwortet er: „Ich war sehr beunruhigt von all den Anschlägen, die es gegeben hat. Wir wussten nicht, ob es auch gegen uns geht, als Familie.“ So habe er mit seiner Mutter über einen Satz von Paul Spiegel vom Zentralrat der Juden in Deutschland sprechen wollen, der den Juden riet, das Land zu verlassen, wenn das so weiter gehe. Aber die Mutter wollte nicht sprechen, sie hatte schon genug mit ihrem Heimatverlust zu tun. „Ich hatte das Gefühl, bei mir bricht was“, sagt der Sohn.

Später, nach dem Abitur, sei er die Orte des Schreckens noch einmal abgefahren, berichtet er heute und findet: „Es war so leblos, so banal, so enttäuschend.“ Schon die Publizistin Hannah Arendt hatte mit Blick auf den Nationalsozialismus ja von der „Banalität des Bösen“ geschrieben. „Der Schritt vom banalen Alltag zu Hass und Hetze ist teilweise sehr klein“, sagt Omid Nouripour, der Deutsche mit iranischen Wurzeln. Eben deshalb müsse man etwas dagegen tun.

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