„Fast machohaftes Männlichkeitsideal“Experten erklären Putins toxische Persönlichkeit

Lesezeit 5 Minuten
Putin zeigt was an

Wladimir Putin bei einer Ansprache

Es braucht nicht viel, um Putins Männlichkeitsideal zu beschreiben: Betont lässig zeigt er sich mit nacktem, durchtrainierten Oberkörper auf einem Pferd reitend, mit dem Gewehr im Anschlag auf der Suche nach einem sibirischen Tiger oder beim Angeln in Flecktarn. Diese Bilder, mit denen sich der Kremlchef seit Jahrzehnten inszeniert, strotzen von traditionell-patriarchalen Männlichkeitsvorstellungen.

Auch den Analysen von Geheimdienstmitarbeitern zufolge gilt Wladimir Putin als besessen von Maskulinität, Größe, Stärke und Macht, berichtet das ZDF – und repräsentiert damit eine Art von Männlichkeit, die in großen Teilen von Europa als toxisch gilt. Aber was genau heißt das eigentlich?

Putin nicht alleine

„Toxische Männlichkeit sind sozialisationsbedingte problematische Verhaltensweisen, Einstellungen und Präsentation von Jungen und Männern“, erklärt Sebastian Tippe. „Damit fügen Männer besonders Frauen durch Diskriminierung, Benachteiligung, Ausgrenzung, Übergriffe oder sexualisierte Gewalt Schaden zu.“

Der Pädagoge und Buchautor („Toxische Männlichkeit – erkennen, reflektieren, verändern“) hat sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Er hält Vorträge über toxische Männlichkeit und besucht Schulen, um Jugendliche und Erwachsene über problematische Verhaltensweisen aufzuklären.

Toxische Männlichkeit ist alltäglich

Seiner Meinung nach hat jeder Mann und jeder Junge aufgrund seiner Sozialisation toxische Anteile. „Viele Männer glauben, sie sind nicht betroffen, weil sie keine ,Vergewaltiger´ seien“, so Tippe. Dabei gehe es bei toxischer Männlichkeit nicht nur um extreme körperliche Gewalt, sondern auch um ganz alltägliche Verhaltensweisen.

„Wenn beispielsweise Männer Frauen ständig unterbrechen, wenn sie ihnen ungefragt die Welt erkläre, oder alleine lassen mit der Kindererziehung und dem Haushalt, ist das toxisch männlich.“ Das sei natürlich ein Kontinuum, das klein beginne, dahinter stehe aber immer die Einstellung: Mir als Mann gehört die Welt und ich darf mir alles nehmen.

Putin ein Paradebeispiel für toxische Männlichkeit

Wladimir Putin hält der Autor für eine Paradebeispiel toxischer Männlichkeit. „Putin präsentiert sich als Kämpfer, als Judoka oder beim Eisbaden. Er demonstriert immer wieder seine maskulinistische Macht und sein traditionell geprägtes Bild von Männlichkeit, bei der er sich besonders groß- und andere besonders kleinmachen will.“

Auch werde seine Geringschätzung für Frauen immer wieder deutlich: „Als dem israelischen Präsidenten vor einigen Jahren die Vergewaltigung von zehn Frauen vorgeworfen wurde, nannte Putin ihn einen starken Kerl, den sie alle bewundern würden“, so Tippe. Durch den Angriffskrieg auf die Ukraine wolle der alternde Staatschef Putin nun noch sein Reich und damit auch seinen Körper erweitern, um unsterblich zu werden, mutmaßt Tippe.

Machohafte Männlichkeitsideale

Dabei handelt es sich laut Rolf Pohl um eine doppelte körperbetonte Inszenierung von Männlichkeit: „Einerseits der eigene männliche Körper als stark und überlegen, aber auch als politischer Körper, als Nation“, so der Sozialpsychologieprofessor. „Auch diese fast ikonografischen Inszenierungen Putins zeigen ein klassisches, fast machohaftes Männlichkeitsideal.“

Den Begriff toxische Männlichkeit verwendet Pohl dagegen ungern. Er sei zu undifferenziert und unterstelle teilweise, dass Männer Opfer ihrer eigenen Sozialisation seien: „Mit toxischer Männlichkeit wird alles bezeichnet, was irgendwie mit problematischem männlichen Verhalten zu tun hat“, sagt der Wissenschaftler.

„Was das männliche Selbstverständnis angeht, gibt es Verbindungslinien zwischen dem mansplainenden Onkel bei der Familienfeier und Wladimir Putin. Aber was die Machtposition, das Verhalten und die Gewaltausübung angeht, muss man ganz klar differenzieren.“

Putins Angriffskrieg lasse sich nicht allein auf problematische Männlichkeitsvorstellungen reduzieren, aber die Wirkung von Geschlechterstrukturen in Kriegen sei für ein angemessenes Verständnis der Situation grundlegend. „Putin hat aus der Angst vor einer imaginierten Bedrohung eine Notwehrsituation konstruiert“, so Pohl.

„Das ist eine militarisierte politische Abwehrstruktur, die sehr stark männlich konnotiert ist.“ Angewendet werde diese aber nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen, die bereit sind, sich dieser Logik zu unterwerfen.

Feministische Außenpolitik ist friedensorientierter

Dass Frauen grundsätzlich friedensorientiert sind, stimmt so also nicht. Aber einer Studie der UN zufolge hielten Einigungen in Friedensprozessen deutlich länger, wenn Frauen systematischer beteiligt waren. „Die Beteiligung von Frauen ist keine Garantie, aber eine stärkere Transformation von einer auf Krieg-Abwehr-Kampf-programmierten Form der politischen Wirklichkeitswahrnehmung in Richtung feministische Außenpolitik ist ein Stück weit friedensorientierter“, so Pohl.

Bei Putins Haltung, seiner Motivation und der Art, wie er den Angriffskrieg führe, spiele die männlich-militärische Abwehrstruktur eine große Rolle. Der Krieg diene etwa der Wiederherstellung von als bedroht erlebten Selbstverständlichkeiten wie Dominanz und Größe. „Der Angriffskrieg ist toxisch männlich durch die persönlichen Motive Putins, Überlegenheit und Dominanz wiederherzustellen“, sagt Pohl.

Und da liege auch grundsätzlich die Krux von Männlichkeit: „Männer unterliegen in diesem System der männlichen Vorherrschaft eigentlich immer diesem Druck, sich als das überlegene Geschlecht zu setzen und zu beweisen, wenn diese Setzung in Gefahr gerät“, erklärt Pohl. „Wenn das passiert, werden Abwehrstrategien gesucht, die tendenziell gewaltförmig sind. Das ist ein struktureller Druck, der auf der männlichen Entwicklung lastet, und nicht wenige geben diesem Druck nach.“

Ein neuer Männertypus?

In Deutschland und Europa sei das klassische Männlichkeitsbild in den vergangenen Jahren zwar etwas ausgehöhlt worden, aber noch nicht gänzlich verschwunden. „Das zeigt sich auch an dem immer noch stark idealisierten Männlichkeitsbild – weiß, älter, wohlhabend, Managertyp – in westlichen Gesellschaften“, so Pohl.

Auch Gruppierungen wie den Incels, der AfD oder Männerrechtlern diene das traditionelle Männlichkeitsbild weiterhin als Sehnsuchtsort für Rückbesinnung. „Dieses Gefühl beispielsweise, dass die Männlichkeit weg ist, ist politisierbar“, sagt Pohl. „Es gibt also immer auch ein Ringen um die Vorherrschaft eines bestimmten Männlichkeitsbildes.“

Der neue Typus Mann

Dabei habe Männlichkeit je nach Region oder Kultur ganz unterschiedliche Ausdrucksformen. „Die“ Männlichkeit existiert also gar nicht. „Wir müssen dem Grauen ins Auge schauen und sagen: Männer, auch wenn sie das klassische Männlichkeitsideal kritisch sehen, sind unbewusst immer noch bestimmt durch dieses patriarchale System“, sagt Pohl.

„Wenn wir von einem neuen Typus Mann reden, kann man das nur abstrakt sagen: Eine Form von Männlichkeit, der es gelingt, sich dem Druck, sich als überlegen zu setzen, zu entziehen und anderen Geschlechtern auf Augenhöhe zu begegnen.“

KStA abonnieren