Halloweentragödie von SeoulNach der Trauer kommen die unangenehmen Fragen

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Blumen und eine Südkorea-Flagge liegen am Unglücksort.

Berlin – Am Tag nach der Tragödie zeigt sich das Seouler Ausgehviertel Itaewon gespenstisch leer: Polizistinnen und Polizisten haben die kleinen Seitengasse abgeriegelt, Trauernde an den Absperrungen Blumensträuße niedergelegt. Nur Stunden zuvor haben hier Dutzende Menschen auf grausame Weise ihr junges Leben verloren: Auf Smartphoneaufnahmen von Zeitzeuginnen und -zeugen ist zu sehen, wie die Opfer zu Dutzenden unter blauen Plastikplanen am Straßenrand aufgereiht wurden. Andernorts stülpten Rettungskräfte behelfsmäßig die Hemden über die reglosen Gesichter der Verstorbenen – um zu signalisieren, dass sie nicht mehr am Leben sind.

Es hätte die größte Party des Jahres werden sollen. Doch stattdessen endete die diesjährige Halloweenfeier in Itaewon in einer nationalen Tragödie: Mehr als 150 Personen sind nach einer offensichtlichen Massenpanik ums Leben gekommen, mehr als 100 weitere wurden zum Teil sehr schwer verletzt. Unter den Opfern befanden sich vor allem junge Südkoreanerinnen in ihren 20ern, zwei Drittel von ihnen weiblich. Auch 20 Ausländerinnen und Ausländer sind laut Innenministerium bei der Tragödie ums Leben gekommen. Laut Feuerwehr sogar 22. Sie stammten den Angaben zufolge aus China, dem Iran, Russland, den USA, Frankreich, Australien, Vietnam, Usbekistan, Norwegen, Kasachstan, Sri Lanka, Thailand und Österreich.

Massenpanik in einer kleinen Seitenstraße Seouls

Die ganz genauen Umstände sind nach wie vor nicht geklärt. Zunächst meldete die Nachrichtenagentur Yonhap Dutzende Herzstillstände unter Partygängerinnen und Partygängern in Itaewon, worauf sich umgehend Gerüchte verbreiteten, dass ein dortiger Nachtclub mit Drogen versetzte Halloweensüßigkeiten verteilt haben könnte.

Doch nach jetzigem Wissensstand scheint eine andere Theorie wesentlich wahrscheinlicher: Über 100.000 Feierwütige sind am Wochenende ins Viertel gezogen. Gegen frühen Abend waren die engen Gassen entlang der Kneipen und Clubs bereits derart dicht bevölkert, dass kaum ein Fortkommen möglich war. Als die Menschen plötzlich in eine kleine Seitengasse strömten, kam es dort offenbar zu einer Massenpanik: Auf Videos ist zu sehen, wie einige junge Männer verzweifelt versuchen, an den Wänden hochzuklettern, um dem erdrückenden Mob zu entgehen. „Glücklicherweise waren wir nicht unter den Menschenmassen“, schreibt eine junge Frau auf ihrem Instagram-Account: „In Itaewon ist es zwar jedes Jahr extrem voll, aber dieses Jahr war es einfach nur verrückt.“

Seoul: Verzweifelte Wiederbelebungsmaßnahmen

Der lokale Fernsehsender SBS interviewte noch in der Nacht auf Sonntag mehrere Augenzeuginnen und -zeugen, die davon berichteten, dass sie an den Verletzten auf der Straße verzweifelte Wiederbelebungsmaßnahmen durchführten, da sich die Rettungskräfte nicht rechtzeitig ihren Weg durch die Menschenmassen hätten bahnen können. Mehr als 140 Einsatzfahrzeuge waren in jenen Stunden im Einsatz.

Das alljährliche Halloweenfestival in Itaewon war die erste große Feier, nachdem die strengen Covid-Auflagen in Südkorea gelockert wurden. Ohne Maskenpflicht und Sperrstunde hatte sich unter vielen Koreanerinnen und Koreanern ein immenser Drang zum ausgelassenen Feiern angestaut, der an diesem Wochenende ein Ventil finden sollte: Mehr als 100.000 Menschen in bunten Kostümen zogen in die Ausgehmeile.

Itaewon-Viertel ist Symbol für Freiheit, Hedonismus und Multikulti

Das Itaewon-Viertel ist in Südkorea ein Symbol für Freiheit, Hedonismus und Multikulti. Doch unter konservativen Seniorinnen und Senioren gilt es auch als Sündenpfuhl. Ohne Frage jedoch ist es ein weltweit einmaliger Kiez: Eingepfercht zwischen einer US-Militärbasis und der größten Moschee des Landes befinden sich Hunderte Bars, Clubs und Restaurants. Und entlang eines Hügels schmiegen sich Schwulenkneipen, Rotlichtsalons und Halal-Lokale dicht nebeneinander. In keiner Nacht des Jahres zieht das Viertel mehr junge Menschen an als zum Halloweenwochenende.

Bis tief in die Nacht boten sich dort den Reporterinnen und Reportern am Unglücksort surreale Szenen: Während die Leichen in Rettungsfahrzeuge abtransportiert wurden und schockierte Passantinnen und Passanten in Tränen ausbrachen, tanzten nur einen Steinwurf entfernt Partygäste in der Fußgängerzone ausgelassen weiter – offenbar zu betrunken, um zu realisieren, dass sich nur kurz zuvor eine der größten Tragödien der jüngeren Geschichte Südkoreas ereignet hat. Präsident berief noch in der Nacht zwei Krisensitzungen ein

Präsident Yoon Suk-yeol, dessen Amtssitz nur wenige Gehminuten vom Unglücksort entfernt ist, hat in der Nacht auf Sonntag zwei Krisensitzungen einberufen und die umliegenden Spitäler angeordnet, Notfallbetten zu präparieren. Seouls Bürgermeister Oh Se-hoon, der sich derzeit auf Europabesuch befindet, hat umgehend sämtliche Termine abgesagt und den nächsten Flieger in die Heimat genommen.

Doch sobald die akute Trauer der Koreanerinnen und Koreaner abgeklungen ist, werden sich die Verantwortlichen wohl einigen unangenehmen Fragen stellen müssen – etwa, warum laut Berichten nur 200 Polizistinnen und Polizisten für das Viertel abkommandiert wurden. Viele von ihnen waren gemäß Zeugenberichten vor allem um den Autoverkehr bemüht, anstatt die Menschenmassen zu koordinieren.

Mangelnde Anzahl an Ordnungshütern

Die mangelnde Anzahl an Ordnungshüterinnen und -hütern ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Stadtregierung in Seoul bei regelmäßigen politischen Protesten auf dem zentralen Gwanghwamun-Platz oftmals mehr Polizisten als erwartete Demonstrierende entsendet.

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Die Ereignisse vom Samstag werden in Südkorea zweifelsohne als die schwerste nationale Tragödie seit genau acht Jahren in die Geschichtsbücher eingehen. Zuletzt sind 2014 bei einem – durch menschliches Versagen und Korruption verursachten – Schiffsunglück knapp 300 Südkoreaner ertrunken, der absolute Großteil von ihnen Teenager während eines Schulausflugs. Wie viele Kommentatorinnen und Kommentatoren anmerkten, handelt es sich bei den Toten der Sewol-Fähre just um dieselbe Generation, die heute Anfang 20 ist – und damit zu jenen Partygästen zählt, die in Itaewon überproportional ihr Leben ließen. Es fühlt sich in der kollektiven Psyche der Koreanerinnen und Koreaner an, als hätte die Gesellschaft es zweimal verpasst, ihre Jugend zu schützen.

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