Interview mit PsychologenWie Eltern mit Neid unter Geschwistern umgehen sollten

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Ein kleines Mädchen sitzt weinend auf dem Fußboden in ihrem Zimmer.

Gerade unter Geschwistern fühlen sich Kinder immer wieder benachteiligt.

Gerade unter Geschwistern fühlen sich Kinder immer wieder benachteiligt. Wie Mütter und Väter mit Neid umgehen können und welche Fehler sie vermeiden sollten.

Herr Frick, warum haben Kinder so oft das Gefühl, die anderen Geschwister bekämen ein größeres Stück vom Kuchen?

Das ist Teil der Menschheits­geschichte. Menschen vergleichen sich und haben dann schnell das Gefühl, sie würden schlechter abschneiden oder der andere eben besser. Dabei ist dieses Gefühl gar nicht so schlecht, denn es ist ein Entwicklungs­motor. Ohne Neid würden wir wahrscheinlich noch in Höhlen leben.

Trotzdem ist Neid etwas, das Erwachsene nicht gerne sehen.

Ja, es gilt als Untugend. Wir sind unter anderem noch von christlichen Werten geprägt. Und nicht alle diese christlichen Werte sind sinnvoll und werden den Menschen gerecht. Der eine Faktor ist also, dass Neid tabuisiert wird und Menschen gar nicht wissen, ob man das empfinden darf.

Der zweite Faktor ist, dass viele Menschen mit diesem Problem tatsächlich auch nicht gut umgehen können. Menschen, die sehr neidisch sind, neigen dazu, sich sehr unvernünftig zu verhalten. Das sehen wir dann zum Beispiel bei dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten.

Wie gehe ich denn dann als Elternteil vernünftig mit dem Thema Neid unter Geschwistern um?

Man sollte genau hinschauen, worum es bei dem Neid geht. Und das Kind mit diesem Gefühl ernst nehmen.

Haben Sie ein Beispiel?

Wenn der kleine Bruder zum Beispiel neidisch auf den älteren ist, weil der viel besser Gitarre spielen kann, könnte eine Antwort sein, dass der Bruder drei Jahre älter ist und dadurch sehr viel mehr Zeit zum Üben hatte. Dann kann man das Kind darin bestärken, durch mehr Training auch so gut werden zu können. Natürlich gibt es auch Faktoren, die man nicht beeinflussen kann, körperliche Eigenschaften zum Beispiel. Wichtig ist aber eben, das Gefühl nicht einfach abzutun, sondern das Kind wirklich ernst zu nehmen.


Zur Person: Professor Jürg Frick war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2021 viele Jahre Dozent und Berater an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Der gebürtige Schweizer ist Psychologe und Experte für Geschwisterbeziehungen.


Neid führt oft zu Streit. Sollten sich Eltern beim Geschwisterstreit einmischen?

Das kommt auf das Alter an. Gerade kleine Kinder können Gefahr nicht richtig abschätzen, da muss man früher intervenieren, wenn sie zum Beispiel mit gefährlichen Gegenständen werfen. Aber generell müssen Eltern aufpassen, sich nicht zu schnell auf eine Seite zu schlagen. Die Schwächeren gehen meist schneller zu den Eltern, sind aber am Streit durchaus beteiligt. Wenn es nicht gelingt zu moderieren, kann es sinnvoll sein, jeden einmal zum Abkühlen in sein Zimmer zu schicken. Also als Verschnaufpause, nicht als Strafe.

Viele Eltern wünschen sich, dass sich die Geschwister gut verstehen. Erwarten sie vielleicht auch einfach zu viel von ihren Kindern?

Es ist wichtig zu verstehen, dass Konflikte, Streit und Auseinander­setzungen dazugehören. Das ist in anderen Beziehungen, etwa in der Partnerschaft, ja auch so. Die Frage ist natürlich, auf welchem Niveau und wie ausgiebig. Aber Streit ist ja auch ein Indiz dafür, dass sie eine Beziehung haben. Ohne es glorifizieren zu wollen, so zeigt der Streit aber: Sie sind einander nicht gleichgültig.

Wie bedeutsam ist die Geschwister­beziehung überhaupt fürs Leben?

Viele Psychologen haben dieses Thema sehr unterschätzt. Ich glaube aber, sie spielt eine große Rolle. Geschwister sind jahrelange Beziehungs­partner, von denen man auch Beziehungsmuster, Einstellungen, Gefühle, Reaktionen, Neigungen und so weiter lernt.

Was kann ich denn als Mutter und Vater tun, um gute Voraus­setzungen für eine gelingende Beziehung zu schaffen?

Einer der Hauptfehler ist, die Geschwister zu vergleichen. Das sind Sätze wie: „Dein Bruder ist so vernünftig. Der macht das, was du machst, nicht mehr.“ Schwierig ist es auch, wenn Eltern das Kind in eine bestimmte Rolle drängen, zum Beispiel eben immer „der Vernünftige“ sein zu müssen. Oder Mädchen, die gewisse Dinge nicht dürfen, weil sie Mädchen sind. Auch das kann Neidgefühle verstärken.

Kann sich der Neid in der Geschwister­beziehung verwachsen?

Hier ist alles möglich. Es hängt natürlich auch davon ab, wie das Leben eines jeden Einzelnen weitergeht, wie stabil Beziehungen sind, wie zufrieden er oder sie im Beruf ist. Ich hatte neulich in meiner Beratung zwei Schwestern, die sich mit 65 Jahren sogar noch geprügelt haben. Man wird also nicht unbedingt vernünftig im Alter. Andere lernen hingegen, den Neid mit der Zeit zu überwinden, und kommen sich als Erwachsene wieder näher. (rnd)

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