Kommentar zur Lage in KasachstanWie die Protestwelle endet, ist völlig ungewiss

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Kasachstan Polizeiblockade

In Almaty reagiert die Bereitschaftspolizei mit großem Aufgebot auf die vielen Demonstrierenden.

Berlin – Gewaltsame Unruhen mit vielen Toten und Verletzten erschüttern das größte Land Zentralasiens. Die Präsidialautokratie ruft russische Truppen zu Hilfe, um sich an der Macht zu halten. Am Ende entscheiden wohl Generäle, wie die Sache in Kasachstan ausgeht, kommentiert Jan Emendörfer.

Das Regime in Kasachstan ist offenbar von den Massenprotesten völlig überrumpelt worden. Anders ist der schnelle Hilferuf nach dem von Russland angeführten Militärbündnis Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) nicht zu deuten. Denn eigentlich ist das Verhältnis zu Moskau von hoher Sensibilität geprägt, gibt es doch auch 30 Jahre nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion immer noch die Sorge, dass deren Rechtsnachfolger mit Gebiets- oder anderen Ansprüchen aus der Deckung kommen könnte.

Aber im Zweifel ist das Hemd näher als der Rock, und russische Truppen sind leichter zu ertragen als der völlige Machtverlust. Dabei dürfte auch Moskau wenig Neigung verspüren, sich in einen langwierigen bürgerkriegsähnlichen Zustand hineinziehen zu lassen. Andererseits bildet die Region den sogenannten weichen Unterbauch der alten Sowjetunion, in der man aus russischer Sicht um jeden Preis Stabilität bewahren möchte, weil die Gefahr eines Überschwappens von Unruhen auf Russland sehr groß ist.

Das von Kasachstans Langzeitherrscher Nursultan Nasarbajew installierte Regime war ein Garant für eine solche Stabilität in Zentralasien. Durchsetzt von alten kommunistischen Eliten aus der Sowjetzeit, führte Nasarbajews Präsidialautokratie einen Kurs der wirtschaftlichen Annäherung an den Westen mit gleichzeitiger Pflege guter politischer Beziehungen zu den mächtigen Nachbarn China und Russland.

Was sich in Kasachstan entlädt, ist allgemeiner Frust

Dank reicher Bodenschätze wie Öl und Gas machte das 19-Millionen-Einwohner-Land ökonomische Fortschritte und gehört heute zu den größten Getreideexporteuren der Welt. Aber wie in den meisten postkommunistischen Gesellschaften blühten auch Korruption und Machtmissbrauch, wurde der neu erwirtschaftete Reichtum sehr ungleichmäßig und ungerecht verteilt.

So brachte jetzt die Verdopplung der Treibstoffpreise das Fass zum Überlaufen und war Auslöser einer gewaltsamen Protestwelle mit inzwischen Dutzenden Toten und über 1000 Verletzten. Was sich da entlädt, ist jedoch nicht nur die Wut über höhere Kosten beim Tanken, sondern ein allgemeiner Frust über die politische und wirtschaftliche Lage im Land.

Während der Reichtum des Nasarbajew-Clans schon vor Jahren auf 7 Milliarden Dollar geschätzt wurde, leben Millionen Menschen in relativer Armut und müssen mit Durchschnittslöhnen von 450 Dollar im Monat auskommen. Zwar trat Nasarbajew 2019 nach fast 30 Jahren Präsidentschaft zurück und übergab die Macht an seinen Gefolgsmann Kassym-Jomart Tokajew.

Aber als vom Parlament ernannter „Führer der Nation“, als Vorsitzender der allein regierenden Partei Nur Otan („Licht des Vaterlandes“) und als Chef des Sicherheitsrates behielt Nasarbajew im Hintergrund weiter alle Fäden in der Hand – auch beim Ausbau der Kleptokratie inklusive maßlosen Personenkults. Nicht nur dass die 1830 als russische Festung gegründete Hauptstadt Astana 2019 in Nur-Sultan umbenannt wurde, auch Straßen und Universitäten tragen den Namen des mit schier unendlicher Machtfülle ausgestatteten Herrschers.

Eine Ära geht in Kasachstan zu Ende – Ausgang ungewiss

Diese Ära scheint jetzt zu Ende zu gehen, aber was danach kommt, ist unklar. Anders als etwa in Belarus ist in Kasachstan bislang keine intellektuelle Führungsmannschaft erkennbar, die Wege und das Ziel der Proteste bestimmen und lenken sowie eine breite Bevölkerungsschicht hinter sich vereinen könnte.

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Das Vorgehen der gewalttägigen Demonstrierenden erinnert eher an planlose Zerstörungswut ohne festen Machtanspruch. Wie häufig in solchen Situationen wird am Ende entscheidend sein, auf welcher Seite das Militär und die Geheimdienste stehen. Generäle sind im Zweifel immer eher für Ordnung und Sicherheit. (rnd)

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