Nach Sturm aufs KapitolBei Verteidigung eingesetzte Polizisten nehmen sich das Leben

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Paul Allard Kapitol

Die Bilder vom Sturm auf das Kapitol gingen um die Welt.

Washington – Der bullige Beamte wirkt nicht, als wäre er leicht aus der Fassung zu bringen. Seit 13 Jahren arbeitet Harry Dunn bei der Washingtoner Kapitolspolizei. Doch als er in der vergangenen Woche vor dem Untersuchungsausschuss zum blutigen Putschversuch vom 6. Januar aussagte, konnte er seine Emotionen kaum zurückhalten: „Was wir an diesem Tag erlebt haben, war traumatisierend.“ Offen berichtete Dunn von der Therapie, die er anschließend gemacht habe. „Wenn Sie darunter leiden, nehmen Sie bitte Hilfe in Anspruch“, wandte er sich an seine Kolleginnen und Kollegen.

Vier Polizisten nehmen sich Leben nach Kapitolsturm

Wie ernst der Rat des erfahrenen Beamten ist, wird derzeit auf beklemmende Weise deutlich: Schon im Januar hatten sich zwei Polizisten, die das Kapitol verteidigt hatten, das Leben genommen. Am vergangenen Donnerstag, zwei Tage nach der Anhörung des Untersuchungsausschusses, erschoss sich ein 43-jähriger Washingtoner Polizist in seinem Haus. Und am Montag wurde bekannt, dass sich bereits Mitte Juli ein 26-jähriger Kollege das Leben genommen hat. Die Motive sind nicht in allen Fällen klar. Aber die Selbsttötungen haben eines gemeinsam: Alle vier Männer waren beim Kapitolsputsch im Einsatz.

Beratung und Seelsorge in schwierigen Situationen

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Telefonseelsorge

Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de

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Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention

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Die Szenen, die sich am 6. Januar im und um das Washingtoner Parlament abspielten, sind auch nach mehr als einem halben Jahr schockierend: Ein aufgebrachter Mob bepöbelte die hoffnungslos überforderte Polizei, die das Gebäude sichern sollte, als „Nazis“ und „Verräter“. Harry Dunn berichtete, wie er rassistisch mit dem N-Wort beleidigt wurde, was ihm nie zuvor im Dienst passierte.

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Es blieb nicht bei verbalen Attacken. Später setzten die Aufrührer Bärenspray und Fahnenstangen gegen die Beamten ein und warfen mit Steinen und Flaschen. Jeffrey S., einer der beiden Polizisten, die sich wenige Tage nach dem Einsatz das Leben nahm, wurde von einer Metallstange am Kopf getroffen. Sein Kollege Aquilino Gonell, ein Ex-Soldat, sagte im Untersuchungsausschuss aus, er habe während des Irak-Krieges nicht so viel Angst gehabt wie an jenem Tag auf dem Kapitol.

Insgesamt 140 Polizisten wurden bei den Unruhen verletzt, die durch eine Rede des Ex-Präsidenten Donald Trump ausgelöst worden waren, in der er seine Anhänger aufrief, „wie der Teufel“ gegen die Zertifizierung des Wahlergebnisses im Parlament zu kämpfen. Ein Polizist erlitt während der brutalen Attacken einen Herzinfarkt und starb am nächsten Tag. Vier Protestler kamen ums Leben.

Die Familien von Howard L. und Jeffrey S., die sich kurz nach dem versuchten Kapitolssturm das Leben genommen hatten, sehen die beiden Polizisten als Opfer des blutigen Aufstands und kämpfen dafür, dass ihr Tod als Folge der Ausübung des Amtes anerkannt wird. „Wenn er an dem Tag nicht zur Arbeit gegangen wäre, wäre er noch am Leben", sagte Erin S., die Witwe von Jeffrey S., der „Washington Post“ Wie zuvor schon diese beiden Beamten, so würdigte Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi am Montag auch Gunther H. als „Helden“. Der Polizist, der sich am vorigen Donnerstag erschoss, hinterlässt eine Frau und drei Kinder.

Verharmlosung und Umdeutung

Trotz dieser tragischen Nachwirkungen wird der 6. Januar von den Republikanern immer stärker verharmlost und umgedeutet. Früh hatten Donald Trump und seine Vetrauten behauptet, die Aufrührer seien in Wirklichkeit linke Antifa-Aktivisten gewesen. Nun verbreiten ultrarechte Abgeordnete wie Matt Gaetz die Verschwörungserzählung, das FBI habe die Milizen infiltriert und zum Aufstand angestachelt. „Große Teile der Demonstranten waren friedlich“, behauptet Senator Ron Johnson weiter und schürt ebenfalls ohne Belege die FBI-Erzählung.

Diese Art von radikaler Realitätsverweigerung, klagt der Polizist Michael Fanone, der am 6. Januar mit einem Elektroschocker malträtiert wurde, mache den Umgang mit dem Erlebten für die Beamten noch schwieriger: „Ich fühle mich, als wenn ich durch die Hölle gegangen bin, um die Leute in diesem Raum zu verteidigen“, sagte der 40-Jährige im Untersuchungsausschuss, „und nun sagen mir zuviele, dass die Hölle gar nicht existiert oder nicht so schlimm war.“ Für die Gleichgültigkeit, mit der seinen Kollegen begegnet werde, hatte Fanone nur ein Adjektiv übrig: „Erbärmlich“.

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