Schwedische FerieninselDie schweren Waffen kehren nach Gotland zurück

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Gotland Soldatin

Schwedische Soldatin auf Gotland  

  • Gotland würde mit einem Nato-Beitritt Schwedens der neue Außenposten des Bündnisses.
  • Nicht jeder ist auf der Ferieninsel glücklich darüber.

Jetzt wird es also doch mal ernst, für viele zum ersten Mal in ihrem Leben. Keine Platzpatronen mehr, keine Schüsse, die nur knallen, aber nichts zerstören. Sondern echte Granaten, Minen, Explosionen.

Ein sonniger Morgen Ende Mai, kalter Wind, weiter hinten das Meer. Ein Panzer rollt vor, über das karstige, kaum bewachsene Gelände, die gut 100 Männer in Grün, Flecktarn, bleiben zurück, wie aus Respekt, sehen aus der Ferne zu, mit Ohrschützern. Dann ein dumpfer Knall, ein dahinrasender Lichtpunkt. Rauch steigt auf. „Viele der Soldaten haben noch nie die Wirkung einer Anti-Panzer-Mine gesehen“, sagt Magnus Frykvall, Soldat im Rang eines Oberst, über die Männer, die ihm unterstellt sind. Aber jetzt, findet er, wird es Zeit.

Die schwedische Insel, auf der dies passiert, ist Gotland. Gelegen in der Mitte der Ostsee. 60 000 Bewohner. 300 Kilometer sind es von hier bis zur russischen Exklave Kaliningrad, wo Russland vor wenigen Wochen demonstrativ weitere Raketen aufgestellt hat. Eine Ferieninsel, in normalen Zeiten regelmäßig erobert nur von einer Übermacht von Kreuzfahrttouristen, jetzt im Zentrum der europäischen Sicherheitspolitik. Der Ort, von dem aus man die baltischen Staaten verteidigen kann, Estland, Lettland, Litauen, sollte Russland eines Tages auch sie angreifen wollen.

Magnus Frykvall ist 47 Jahre alt. Schwarzes Barett, darunter Glatze, rötlicher Vollbart. Vor fast 30 Jahren ging er zur Armee, damals noch geprägt von den Nachwehen des Kalten Kriegs. Er war dann viel im Ausland im Einsatz, im Kosovo, in Afghanistan, in Mali. Aber erst jetzt macht er das, worum es ihm eigentlich ging. „Meine Aufgabe jetzt war der Grund, warum ich 1995 eingetreten bin“, sagt Frykvall. „Ich wollte Schweden verteidigen.“ Und das, fürchten manche, könnte jetzt wieder nötig sein. Jetzt, nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Und nach der Entscheidung Schwedens, der Nato beitreten zu wollen.

Schweden also bricht mit seiner eigenen, 200 Jahre alten Tradition. Seiner Linie, sich im Kriegsfall nicht zu positionieren, neutral zu sein. Man kann sagen, dass Schweden diese Linie schon in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr und mehr aufgegeben hat. Weil längst klar, wo sie stehen. Weil amerikanische Fallschirmjäger zur Übung auf Gotland landeten.

Die Neutralität wird Geschichte

Aber jetzt, mit dem Nato-Beitritt, wird die Neutralität auch offiziell Geschichte. Und nirgendwo wird dies so greifbar wie hier, auf Gotland. Eigentlich hatte die schwedische Armee die Insel schon verlassen. Keiner mehr da, der sich um die zurückgelassene Handvoll alter Panzer kümmerte. Seit 2016, kurz nach der russischen Annexion der Krim, kehren sie allmählich zurück – und seit dem Angriff auf die Krim noch etwas schneller. Vor einigen Wochen ließ schwedische Armee schon mal demonstrativ Panzerfahrzeuge durch die Inselhauptstadt Visby rollen und Soldaten patrouillieren – so, dass es im Zweifel auch in Russland jeder erfahren sollte.

Die Menschen auf Gotland wiederum hat es eher nicht erschreckt, im Gegenteil. Für Inger Harlevi jedenfalls könnte alles sogar noch deutlich schneller gehen.

Die 73-Jährige, kurzes graues Haar, türkisfarbene Stehkragenbluse, schlägt als Treffpunkt den Donnars Plats vor, einen von Hotels und dem alten Postamt gesäumten Platz in der Altstadt der Inselhauptstadt Visby. Harlevi ist auf Gotland geboren, sie hat ihr ganzes Leben hier verbracht, bis auf das Studium und die Zeit als Fremdenführerin im Ceaucescu-Rumänien Ende der Siebzigerjahre, aus der sie einige ganz nützliche Fähigkeiten mitnahm. „Ich weiß seitdem, wie man Abhörmikrofone in Zimmern findet“, sagt sie. Ihre Vorgängerin in dem Job hatte es ihr beigebracht. Auf jeden Fall macht sich Inger Harlevi seitdem wenig Illusionen über autoritäre Regime im Osten des Kontinents.

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Ob sich die Menschen auf Gotland jetzt unsicherer fühlen, seit dem russischen Angriff auf die Ukraine, hier, 300 Kilometer von Kaliningrad, der russischen Exklave und ihren Raketen? Ob sie Angst haben? Einige Medien vom Festland haben das geschrieben. Harlevi, Präsidentin des Regionalparlaments von Gotland, der Bürgerschaft der Insel, ärgert das. „Wir fürchten nicht, dass die Russen kommen“, sagt sie. Schließlich leben sie mit der Nähe seit Jahrzehnten. „Im Kalten Krieg waren wir der östliche Vorposten der westlichen Welt“, sagt sie. Mit Tausenden schwedischen Soldaten und russischen Flugzeugen, die ihrer Insel immer wieder bedenklich nahe kamen. Naiv waren sie hier nie. „Wir waren uns der Nähe zu Russland immer bewusst“, sagt sie. Absurd zu glauben, sie hätten das erst jetzt entdeckt.

Wenn es in Schweden insgesamt zwei Drittel der Menschen sind, die jetzt für den Nato-Beitritt ihres Landes sind, „dann sind es hier auf Gotland sicher noch mehr“, sagt sie. „Wir wollten ja das Militär hier haben, die ganze Zeit.“

Die Amerikaner bleiben fort

Und Angst können sie hier schließlich auch sonst schlecht gebrauchen. Wo doch die amerikanischen Kreuzfahrttouristen seit Kriegsbeginn jetzt schon nicht mehr kommen. Rund 20 000 von 200 000 im Jahr, die einfach nicht mehr kommen, wenn es so weitergeht, weil aus der Ferne 300 Kilometer bis Kaliningrad noch viel kleiner aussehen als aus der Nähe.

Auf dem Übungsgelände dagegen zeigt das schwedische Militär so lange schon mal, was es hat. Erst schießt ihr kleinerer Panzer, ein Stridsfordon 90, so heißt er, schwedische Entwicklung und Exportschlager, oft verkauft nach Dänemark, Österreich, ins Baltikum. Dann ihr großer Panzer, ein deutscher Leopard 2. Schließlich zieht ein kleiner Trupp los, der geduldig am Rand gewartet hat, mit Panzerfäusten und „Carl Gustaf“. Die Panzerfäuste sind jene, die man jetzt auch auffallend häufig auf Bildern aus der Ukraine sieht. „Carl Gustaf“ ist auch eine Panzerwaffe, aber etwas kleiner. Der Name ist in Wirklichkeit etwas länger, aber die Soldaten sagen nur „Carl Gustaf“, wie zu einem alten Bekannten.

Hinknien. Zielen. Schießen. Ein dumpfer Kall. Rauch in der Ferne. Dann wieder Stille.

So eine Übung, die eher eine Vorführung ist, hat auch ihre Längen. Nach knapp zwei Stunden legen sich die ersten Rekruten auf den steinigen Boden, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, wie beim Fernsehen.

Wie viele Soldaten derzeit bereits auf Gotland stationiert sind, sagt Oberst Frykvall nicht klar. 4500 sollen mittelfristig im Verteidigungsfalle hier sein. Permanent hier, sagt ein Offizier am Rande, seien aber bislang lediglich 100. Dazu 150 weitere auf Abruf. Und 40 Wehrpflichtige, deren Zeit hier in drei Wochen abläuft. Wobei sie gerne mehr gehabt hätten auf Gotland. „Aber wir hatten nicht genug Betten.“ Das Ende der Sorglosigkeit kam in Schweden für manchen etwas plötzlich.

Panzer Gotand

Militärfahrzeug auf Gotland 

Dennoch verbreitet Oberst Frykvall Wehrhaftigkeit. „Wir haben alles, was wir brauchen, um die Insel zu verteidigen“, versichert er. Zugleich „arbeiten wir hart daran, unsere Fähigkeiten auf Gotland weiter zu verstärken“. Für viel Geld sollen neue Gebäude kommen, weitere Soldaten, weitere Waffen, auf Gotland und in ganz Schweden. Offen gestritten wird darüber in Schweden wenig. Gegen den Nato-Beitritt stellen sich nach dem Schwenk der regierenden Sozialdemokraten nur noch zwei Parteien, die Linken und die Grünen, zusammen repräsentieren sie im Parlament gut zwölf Prozent der Stimmen. „Auf dem Papier sieht der Beitritt nach einem dramatischen Schritt aus“, so erklärt es am Telefon Emanuel Örtengren, Direktor der Denkfabrik Frivärld in Stockholm, „aber nach einer langen Phase immer engerer Beziehungen zwischen Schweden und der Nato ist er nur logisch.“

Gegner aber gibt es auch hier, auf Gotland. Robert Hall zum Beispiel wohnt gleich gegenüber dem Militärgelände, im Ökodorf Suderbyn, auf einem Hof mit aufgemalter Blumenwiese und „Macht Gärten, nicht Krieg“-Plakat davor. „Wir wollen hier keine Gewalt“, sagt der 59-Jährige tags zuvor am Tisch vor dem Wohnhaus über die Ökodorf-Gemeinschaft, während von nebenan die Schüsse der Panzer herüberdonnern, Knall um Knall.

Auf fast aussichtslosem Platz

Hall, gebürtiger Kalifornier, seit den Achtzigern in Schweden, hat das Ökodorf 2008 mitgegründet, damals war das Militärgelände drüben verwaist. Sein Geld verdient er als Wahlbeobachter für die OSZE, fünf Mal war er so in der Ukraine, ein Mal in Russland, zwei Mal in der Türkei. Bei der Wahl im September kandidiert er für den Reichstag, allerdings auf dem nahezu aussichtslosen Platz 49.

„Was ich nicht verstehe, ist die Eile, mit der der Beitritt vollzogen werden soll“, sagt Hall. Warum, fragt er, warte man nicht die Wahl ab – und nutze den Wahlkampf für eine Debatte über Neutralität oder Nato? „Mein Verdacht ist, dass genau diese Debatte verhindert werden soll.“ Weil es, vermutet Hall, dann mehr Zweifler gebe. Er sei ja selbst für Verteidigung. „Aber man braucht nicht die Nato, um der Ukraine beizustehen.“ Und grüßt die vorbeigehende ukrainische Journalistin, die sie im Ökodorf aufgenommen haben.

Die Übung mit der echten Munition endet nach gut zwei Stunden. Alles getroffen, bilanzieren die Offiziere am Rande, sofern sie das aus der Ferne sehen konnten. Und die jungen Wehrpflichtigen, für die die Vorstellung eigentlich gedacht war?

Der junge Filip Sundin ist einer der 40 Wehrpflichtigen, deren Dienst hier in wenigen Wochen endet. 20 von ihnen haben sich verpflichtet, eine sehr gute Quote. „Sehr beeindruckend“ habe er die Vorführung der Waffen gefunden, sagt Filip höflich, als bedanke er sich für ein unerwartetes Geschenk, von dem er noch nicht weiß, ob er es brauchen kann.

Er selbst aber habe sich entschieden, nicht bei der Armee zu bleiben, sondern Ökonomie in Stockholm zu studieren. Für den Moment, sagt er, scheine ihm das für ihn selbst die passendere Wahl zu sein.

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