„Tag des Sieges”Warum der 9. Mai für Putins Kriegspropaganda so wichtig ist

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Putin Konzert Inszenierung

Wladimir Putin inszeniert sich im März bei einer Feier zum vermeintlichen Sieg an der Krim.

Moskau – Der „Tag des Sieges“ über Nazi-Deutschland am 9. Mai ist für Putin ein zentrales Element seiner Kriegspropaganda. Was aber wird dieses Jahr geschehen, in Moskau wie in Berlin? Im Treptower Park in Berlin sind 7000 der insgesamt 80.000 sowjetischen Soldaten bestattet, die in der Schlacht um Berlin 1945 ihr Leben verloren. Sie stammten aus allen Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Es waren Russen, Weißrussen, Ukrainer, Kasachen darunter, Angehörige sibirischer und kaukasischer Völker. 77 Jahre nach dieser letzten großen Schlacht des Zweiten Weltkriegs, die Europa vom Nationalsozialismus befreite, tobt über ihren Gräbern ein neuer Kampf um die Deutungshoheit in einem neuen Krieg.

„Putin = Stalin”

In den vergangenen Wochen schwenkten Putin-Fans riesige Sowjetflaggen vor der Anlage und legten Blumensträuße nieder, die mit einem Z markiert waren, dem Symbol des russischen Völkermords in der Ukraine. Wenige Tage später markierten Kriegsgegner den Sockel der riesenhaften Sowjetsoldaten im Zentrum der Anlage mit einem anklagenden „Why?“ („Warum?“) und der Gleichung „Putin = Stalin“.

Putin inszeniert sich als Erbe des Siegs von 1945

„Putin = Stalin“, wer immer das in Treptow an den Sockel schmierte, hat das als Anklage gemeint. Und trifft dabei aber auch einen anderen Punkt: Seit Jahren inszeniert sich der Kremlchef als Erbe des Siegs im „großen vaterländischen Krieg“, der mit der Schlacht um Berlin endete. Und dieses Erbe spielt eine zentrale Rolle bei der Inszenierung des aktuellen Krieges. Es könnte ihn sogar entscheidend beeinflussen.

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„Putin hat einen großen Krieg seit vielen, vielen Jahren vorbereitet“, sagt Russland-Expertin Masha Gessen in einem aktuellen Interview. Für seinen Anspruch auf imperiale Größe und die Unterstützung an der Heimatfront ist laut Gessen eines unerlässlich: die Glorifizierung des Sieges über Hitler-Deutschland im „großen vaterländischen Krieg“.

„Wir können den großen Krieg wiederholen”

Russland hat laut Putin das alleinige erinnerungspolitische Erbe der Sowjetunion angetreten. Dieses Erbe kommt mit einem Anspruch: „Russland hat durch den Sieg im Zweiten Weltkrieg das Recht erkämpft, als Weltmacht behandelt zu werden“, referiert Gessen Putins Denkweise. Die großen, alljährlichen Militärparaden in Moskau am 9. Mai, an dem in Russland der Sieg über Deutschland 1945 gefeiert wird, hatten aus ihrer Sicht eine zweite Ebene: die Raketen, die Panzer, die Truppen fügten sich zu einem „Säbelrasseln“, das „auch eine Nachricht an Russland und die Welt gleichermaßen war: Wir können den großen Krieg wiederholen“.

Seit dem 24. Februar läuft diese Wiederholung, und Putins Propaganda, seine Soldaten und seine Unterstützer im Westen zeigen den Überfall auf die Ukraine als einen erneuten „Kampf gegen den Faschismus“. Rote Sowjetflaggen auf Panzern inklusive. Kriegsziel ist laut russischer Propaganda bekanntermaßen die „Entnazifizierung der Ukraine“.

„Dieser Krieg war so angelegt, dass er nur ein paar Tage dauern sollte“, sagt der Osteuropa-Historiker Jan C. Behrends im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Den Sieg über die Ukraine wollte Putin mit Sicherheit am 9. Mai feiern lassen, vielleicht mit einer Parade in Kiew. Damit ist er gescheitert. Nun läuft ihm die Zeit davon.“

Symbole stehen über der Realität

Der 9. Mai, nur ein Datum, nur ein Symbol? Ja, aber Symbole stehen im heutigen Russland über der Realität. Und auch das hat Tradition: „Schon die sowjetische Propaganda hat sehr stark mit Stichtagen gearbeitet: Bis zum 9. Mai mussten soundsoviele Traktoren produziert, soundsoviele Hektar Land bestellt werden“, sagt Behrends, der an der Europa-Universität in Frankfurt (Oder) lehrt. Er schließt daraus: „Putin braucht bis zum 9. Mai einen Sieg. Das soll wahrscheinlich die Eroberung des gesamten Donbass sein, darauf konzentrieren sich gerade seine Truppen.

In den sozialen Medien hoffen gerade viele russische Oppositionelle und Ukrainerinnen und Ukrainer gleichermaßen auf einen Waffenstillstand bis zum 9. Mai. Behrends erwartet das nicht. Es gehe „um eine symbolische, propagandistische Bilanz“ – und um eine Rechtfertigung für die Opfer, denn die unerwartet hohen Verluste der russischen Truppen ließen sich nicht verstecken. „Auch die Sprachregelung der russischen Propaganda passt sich dem an“, beobachtet Behrends. Nicht mehr von „spezieller Operation“ ist die Rede, sondern von „kriegerischer Operation“, eine kleine, aber wichtige Verschiebung.

Auch in Berlin-Karlshorst verschiebt sich etwas. Das von der Bundesregierung finanzierte „Deutsch-Russische Museum“ am historischen Ort der bedingungslosen deutschen Kapitulation in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 nennt sich seit Kriegsbeginn in der Ukraine nur noch „Museum Berlin-Karlshorst“.

Vergangenes Jahr, zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941, hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dort gesprochen. „Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war eine mörderische Barbarei“, hatte Steinmeier gesagt. Wie aber lässt sich diese Wahrheit nicht vergessen und gleichzeitig daran erinnern, dass es heute russische Truppen sind, die barbarisch und mörderisch vorgehen?

Schon 2021 führte der Ort der Rede zu einem diplomatischen Eklat. Die eingeladenen Botschafter der drei baltischen Staaten und Ukraines Botschafter Andrij Melnyk waren dem Gedenken ferngeblieben. Melnyk nannte die Bezeichnung „Deutsch-Russisches Museum“ völlig irreführend. „Auf diese Weise wird de facto die UdSSR mit Russland gleichgesetzt, was eine Geschichtsverdrehung darstellt und vehement abzulehnen ist.“

In diesem Jahr kommt Klartext aus Karlshorst: „Wir verurteilen den Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine – der mit offenbar immer größerer Brutalität und mit mittlerweile zahlreichen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung geführt wird – aufs Schärfste“, teilt die Museumsleitung mit. Und kein Botschafter muss absagen, weil er befürchtet, dass die Gegenseite auch einen Kranz niederlegen will: Diplomatische Vertreter der Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind dieses Jahr gar nicht erst zum Gedenken eingeladen.

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