Leben in ständiger AngstSo geht WM-Gastgeber Katar mit Homosexuellen um

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Die LGBT- und die Katar-Flagge sind nebeneinander auf eine Betonwand gemalt.

Zwei Symbole, die inhaltlich mehr Abstand haben als auf dieser Wand: Links die für LGBT stehende Regenbogenflagge, rechts die von Katar

Die Fußball-WM 2022 findet in Katar statt. Dort ist Homosexualität strafbar. Wie wirkt sich das auf die Realität vor Ort aus? Ein Bericht über ständige Angst, unterirdische Gefängnisse und unterschiedliche Maßstäbe.

Der katarische Mediziner Nasser Mohamed wollte seine Homosexualität nicht länger verstecken. Er gab seinen Besitz in der Heimat auf, kappte Beziehungen zu Familie und Freunden – und lebt inzwischen in San Francisco. In sozialen Medien und in Interviews berichtet Nasser Mohamed von seiner Geschichte. „In Katar versucht man, unsere Existenz zu zensieren“, sagte er der BBC. „Als schwuler Mann lebt man dort in ständiger Angst. Man muss jeden Schritt des Tages gut planen, um sich nicht aus Versehen selbst zu outen. Damit würde man sein Leben riskieren.“

Katar zählt zu den weltweit 69 Staaten, in denen queere Menschen mit Verfolgung rechnen müssen. Nach Artikel 285 des katarischen Strafgesetzbuches wird außerehelicher Sex, einschließlich gleichgeschlechtlicher Beziehungen, mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft. In den zwölf Jahren seit der WM-Vergabe 2010 konzentrierten sich europäische Medien vor allem auf menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in Katar und weniger auf die staatlich verankerte Homophobie. Nun wollen Aktivisten in den verbleibenden Wochen bis zum WM-Finale die Aufmerksamkeit für das Thema erhöhen.

Nasser Mohamed hat für einen Report von Human Rights Watch Kontakte zu Opfern hergestellt. Die Menschenrechtsorganisation befragte einen schwulen Mann, eine bisexuelle Frau und vier Transgender-Frauen aus Katar. Alle sagten aus, dass sie von katarischen Beamten zeitweilig in einem unterirdischen Gefängnis in Doha festgehalten worden seien. Die Fälle ereigneten sich offenbar zwischen 2019 und September 2022.

Geschlagen und gedemütigt – Katar weist die Vorwürfe zurück

Im Bericht schildern die Opfer, dass sie zum Teil geschlagen, gedemütigt und verbal belästigt worden seien. Einige von ihnen erhielten offenbar keinen Zugang zu Rechtsbeistand und medizinischer Versorgung. Unter Zwang sollen ihre Handys für Kontrollen entsperrt worden seien. Die Betroffenen mussten offenbar die Verpflichtung eingehen, fortan „unmoralische Aktivitäten einzustellen“. Niemand von ihnen habe eine schriftliche Bestätigung für die Inhaftierung erhalten, eine Anklage wurde gegen sie nicht erhoben. „Die Sicherheitskräfte sind offenbar zuversichtlich, dass ihre willkürlichen Übergriffe nicht gemeldet und nicht kontrolliert werden“, sagt Rasha Younes von Human Rights Watch.

Das katarische Innenministerium wies die Vorwürfe zurück und kritisierte den Report. Solche Berichte mit konkreten Aussagen sind selten. In den Archiven lassen sich wenige Beispiele finden, bei denen die harte Gesetzgebung auch auf Ausländer angewandt wurde. 1996 wurde laut dem US-Außenministerium ein US-Bürger in Doha zu Peitschenhieben verurteilt. Zwei Jahre später wurden offenbar mehrere schwule Arbeiter aus den Philippinen aus Katar ausgewiesen. 2016 soll ein polnischer Social-Media-Aktivist wegen Homosexualität in Haft gewesen sein.

Es ist davon auszugehen, dass der katarische Staat auch bei diesem Thema unterschiedliche Maßstäbe in der Bevölkerung ansetzt. Human Rights Watch hat offenbar Kenntnis von sieben inhaftierten Lesben und Schwulen aus Marokko, Nepal und den Philippinen. Also aus Ländern, aus denen Hunderttausende Migranten stammen, die in Katar für wenig Geld hart arbeiten müssen. „Der Staat überwacht offenbar soziale Medien und prüft Botschaften, die von queeren Menschen kommen könnten“, sagt Piara Powar vom Fußball-Antidiskriminierungsnetzwerk Fare. „Es soll auch eine informelle Telefon-Hotline geben. Dort können Verwandte und Freunde bestimmte Personen an die Behörden melden. Und der Staat kann dann gegen sie vorgehen.“

Der Islam ist keine pauschal homophobe Religion.
Sebastian Sons, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

Derweil leben viele Besserverdiener aus westlichen Staaten auf „The Pearl“, einer künstlichen Insel in Doha mit Restaurants, Cafés und Familienunterhaltung. Vor staatlicher Überwachung, so scheint es, fürchten sie sich weniger. Queere Personen aus der internationalen Gemeinschaft bestätigen in Hintergrundgesprächen, dass sie „in Ruhe gelassen werden“. Solange ihre Homosexualität Privatsache bleibe. Grundsätzlich sei Körperlichkeit in Katar in der Öffentlichkeit verpönt, auch zwischen Frauen und Männern. Mitunter wird das Thema Homophobie sogar in der „Education City“ diskutiert, einem Campus mit Außenstellen westlicher Universitäten.

Doch außerhalb der liberalen Rückzugsorte bleibt das Thema tabu. Eine Beraterin des katarischen Außenministeriums bezeichnete Homosexualität in einer arabischsprachigen Zeitung als „schwere Sünde“. In Onlinemedien wurde die Idee diskutiert, für Touristen einen Test für sexuelle Orientierung einzuführen. Es sind Aussagen, die in Teilen der traditionalistisch geprägten Gesellschaft wohl auf Zustimmung stoßen. 2020 wollte die US-amerikanische Universität Northwestern in Doha ein Konzert mit einer libanesischen Rockband veranstalten. Die Empörung und der Protest gegen deren schwulen Sänger war so groß, dass die Uni das Konzert absagte.

Die Regierung will solche Kontroversen wohl auch mit Zensur vermeiden. Mehrfach waren Online-Artikel des Portals Doha News oder von der New York Times über Homophobie in Katar nicht mehr abrufbar. Selbst moderate katarische Politiker, die in den USA studiert haben, vermeiden eine Positionierung. Wohl auch, weil sie gegenüber ihren Rivalen in Saudi-Arabien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten nicht als schwach gelten wollen, sagt der Islamwissenschaftler Sebastian Sons: „Die gesellschaftlichen Strukturen am Golf sind männerdominiert und stark von Geschlechtertrennung geprägt. Man möchte ein gewisses Männlichkeitsideal ausstrahlen.“ Dieses vermeintliche Ideal betrachtet Homosexualität offenbar als Schwäche.

Sebastian Sons plädiert jedoch für eine differenzierte und umsichtige Debatte. Man dürfte den Islam keinesfalls pauschal als homophobe Religion bezeichnen. Jahrhunderte lang fanden auch homoerotische Vorstellungen Eingang in Lieder und Gedichte arabischer Autoren. Bis ins 19. Jahrhundert hinein galten etliche Gesellschaften im Nahen und Mittleren Osten als freizügig und zwanglos. Die Prüderie kam erst verstärkt mit den Kolonialmächten in die Region, schreibt der Arabist Thomas Bauer in seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität.“

Die Weltmeisterschaft intensiviert nun die Debatte über Homophobie in der Golfregion. Eine Allianz aus internationalen NGOs möchte aufklären und den Druck auf die Fifa erhöhen. Erst vor wenigen Tagen protestierte der britische Aktivist Peter Tatchell vor dem Nationalmuseum in Doha gegen die queerfeindliche Gesetzgebung. Schnell verbreitete sich die Meldung in sozialen Medien, er sei verhaftet worden. Später stellte sich heraus, dass sein Protest von Sicherheitskräften lediglich gestoppt wurde. Sogar das Online-Medium Doha News, das einst bei diesem Thema zensiert wurde, interviewte Tatchell.

Es ist gut möglich, dass die katarische Polizei Proteste wie diese in den kommenden Wochen weitgehend dulden wird. So ähnlich hatten es auch Behörden in Russland während der WM 2018 praktiziert. Doch schon bald nach der Abreise der internationalen Journalisten verschärfte der Kreml die Repression gegen die Zivilgesellschaft. Daher sei nun die Abstimmung mit katarischen Aktivisten von Bedeutung, sagt Leo Wigger, Nahostforscher und Co-Autor eines Buches über die WM: „Mitunter können Protest-Aktionen kontraproduktiv sein und das Leben der Betroffenen vor Ort noch schwerer machen.“

Fifa distanziert sich nicht von homophoben Aussagen

Ein Beispiel: Mitte Oktober wollte die englische Fußballikone Gary Lineker schwule Profis im Boulevardblatt „Daily Mirror“ zu einem Coming-out während der WM ermuntern. In sozialen Medien kritisierten Aktivisten diesen Vorstoß als Effekthascherei, die queere Menschen in Katar nicht weiterbringe. Vertreter des Gastgebers hingegen bleiben nach wie vor vage und betonen immer wieder, dass jeder Gast in Katar willkommen sei.

Auch die Fifa geht nicht in die Offensive, im Gegenteil. 2021 bezeichnete die ägyptische Fußballikone Mohamed Aboutrika in einem katarischen Fernsehsender Homosexualität als „gefährliche Ideologie“. Aboutrika erhielt in der arabischen Welt viel Unterstützung, unter anderem von Mahmoud Al Mardi, dem Kapitän der jordanischen Nationalmannschaft. Eine deutliche Distanzierung von Fifa und WM-Organisation blieb aus.

Die Glorifizierung homophober Aussagen trug dazu bei, dass der Arzt Nasser Mohamed seine Heimat Katar verlassen hat. Gegenüber der BBC schilderte er ein weiteres Problem: Katarer stammen aus einem der reichsten Länder der Welt. Mitunter hätten sie es im Asylverfahren schwer, ihre Homosexualität als Grund der Verfolgung zu beweisen. Nasser Mohamed will weiter aufklären. Er sagt, er habe dafür auch viel Zustimmung erhalten.

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