„700 bis 900 Zigaretten an einem Tag geraucht“Erschütternde Einblicke in die Psyche des „Gejagten“ Jan Ullrich

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Jan Ullrich spricht in ein Mikrofon

Jan Ullrich bei der Premiere seiner Dokumentation am 22. November in München

Langsam kämpft sich Deutschlands Radsportidol nach heftigen Abstürzen zurück. Wie konnte das Leben des Superstars überhaupt derart aus den Fugen geraten? 

Auf dem Weg hinauf nach Alpe d’Huez, irgendwann inmitten der Reise zu sich selbst, klingt Jan Ullrich auf seinem goldenen Rennrad wie ein Existenzialist aus der Schule Sartres. Er fährt steil nach oben, besinnt sich während der Anstrengung und sagt plötzlich beeindruckende Sätze aus der Tiefe seiner Seele. „Sport ist ja Leidenschaft. Liebe. Und auch eine Sucht“, erzählt Ullrich im Schatten des Berges, und im Hintergrund, auf der anderen Seite des Tals, rauschen steile Felsen vorbei, gehaucht in das grelle Licht des Tages. „Wenn man das Talent hat und sich auch gerne schindet“, komme ja auch noch die Qual hinzu: „Jetzt ist es draußen kalt, es schneit, ich spüre die Hände nicht mehr, die Füße sind taub. Und trotzdem muss ich jetzt noch 200 Kilometer durch die Berge fahren.“

Die Botschaft dahinter liefert Ullrich gleich mit, und es könnte gleichzeitig die Formel für seine private Erlösung sein, nach der er seit 2006 sucht: „Da kommt man seinen Grenzen extrem nah. Was man im Sport perfekt lernen kann: Man kann so viel mehr als man denkt.“ Auch Lebenskrisen bewältigen. Entsprechend endet der innere Alpen-Monolog: „Da kämpfe ich mich wieder raus.“ Aus den Problemen. Das lerne man von klein auf im Sport.

Zweijährige Reise zu sich selbst

Zwei Jahre hat Ullrich mit dem Regisseur Sebastian Dehnhardt an einer Dokumentation für Amazon Prime gearbeitet. Es geht um Ullrichs Aufstieg vom Amateur aus Rostock zu einem bewunderten und geliebten deutschen Radsport-Wunderkind. Und es geht um seinen Absturz, der eine Stufe vor dem Tod endet. In den vielen Auftritten und Interviews, die diesen filmischen Einblick in Ullrichs Leben seit über einer Woche flankieren, betont der Hauptdarsteller immer wieder, dass es gerade die Arbeit an diesen vier Teilen war, die ihn sich selbst verstehen lässt. Die ihm klargemacht hat, dass er sein Leben ändern und seine Verdrängungsmechanismen habe aufgeben müssen, um wieder „zurück ins Leben“ zu finden.

Den Abschluss dieser Reise bildet eine vier Worte umfassende Aussage, die Ullrich am 22. November gegen 18 Uhr in einem Münchner Kino trifft, dort steigt die Premiere seiner Filmreihe mit dem Titel: „Der Gejagte“: „Ja, ich habe gedopt.“ Bisher hat er nichts dergleichen öffentlich von sich gegeben, auch nicht in seiner Dokumentation oder in den Interviews, die gerade aktuell von ihm zu lesen sind. Aus Scham. Aus Furcht vor Konsequenzen. Aus Angst vor den Reaktionen der Öffentlichkeit. Vor allem aber, weil er die Radsportfamilie habe schützen wollen, „in der ich ein angesehenes Mitglied war“.

Jour de France 1997: Jan Ullrich beim Einzelzeitfahren im Gelben Trikot.

Tour de France 1997: Jan Ullrich beim Einzelzeitfahren im Gelben Trikot.

Und so hält er es auch weiter. Er redet nur über seine persönliche Dopingkarriere, die 1996 aus einem Metier-Zwang heraus begonnen habe, denn es sei um Chancengleichheit in einem Epo-verseuchten Umfeld gegangen. Über das Telekom-Dopingsystem verliert er kein Wort. 1997 gewann Ullrich, der Hochbegabte, „mit Waffengleichheit“, wie er sagt, tatsächlich die Tour de France, als erster Deutscher. Mehr geht nicht für einen Radprofi.

Auf Epo folgt Blutdoping – damit fällt Ullrich 2006 im Zuge einer Razzia bei Eufemiano Fuentes in Madrid auf, dem Arzt seines Vertrauens. Dass er daraufhin im selben Jahr die Tour am Tag vor ihrem Start in Straßburg habe verlassen müssen, „führte zu einer Schockstarre“. Und zu einem 17 Jahre langen Schweigen. Ullrich ist nach Straßburg mit der Situation völlig überfordert, das Offensichtliche einzugestehen. Er will weder sich noch seine Radler-Familie verraten.

Bei der Filmpremiere in München sagt Ullrich, die psychische Not, „die Depression“, die sich bei ihm wegen seines verweigerten Geständnisses ergeben hat, hätte er sich ersparen können. Wenn er seinen Dopingkonsum früher zugegeben und seine Seele befreit hätte. Denn die Gedanken an die zwar verdrängte, aber nicht verscheuchte Vergangenheit kehren immer wieder in Ullrichs Bewusstsein zurück und verdunkeln seine Psyche. Er sagt: „Ich hätte schöne Jahre gewinnen können, hätte ich meine Geschichte früher erzählt.“

Das Schweigen hat Ullrich aufgezehrt. Seine Seele beschwert. Und schließlich eine manische Phase eingeleitet, in deren Folge er sich in einen Alkohol- und Drogenjunkie verwandelt hat. Samt fürchterlichem Absturz und einer Nacht in einer Gefängniszelle auf Mallorca. Das war 2018. Es folgt ein Entzugsversuch, der scheitert, weil Ullrich kurz vor Weihnachten 2021 noch einmal dramatisch abstürzt.

Ich habe einmal 700 bis 900 Zigaretten an einem Tag geraucht. Ich weiß nicht, wie ich das überlebt habe. Das war totaler Quatsch
Jan Ullrich

Ullrich wird klar, dass er sich öffnen muss, wenn er überleben will. Dazu muss er alle Geständnis-Ängste ablegen, nur so kann er sein Inneres befreien. Das wird Ullrich Ende 2021 klar. Die Dokumentation soll dem Gejagten den Weg in die Heilung weisen – alles rauslassen, was er verschlossen hält. Es beginnt eine psychische und physische Reise, Ullrich nennt sie „Jakobsweg“, die ihn an die Orte bringt, die seine Karriere geprägt haben, Alpe d’Huez zum Beispiel, die Kamera ist stets dabei. „Man kann so viel mehr als man denkt“, diesen im Anstieg hinauf zu der Skistation im Grandes-Rousses-Massiv ausgesprochenen Satz verinnerlicht Ullrich nun.

Hilfe annehmen, das kommt für Ullrich lange nicht in Frage. Stolz. Starrsinnigkeit. Der Glaube, alles mit sich ausmachen zu können: „Ich habe die Tour de France gewonnen. Wenn ich das geschafft habe, dann komme ich auch da wieder raus.“ Aus seiner Lebenskrise. Doch das war ein Irrtum.

Rückblick. Mallorca, 2015. Ullrich, seine Frau Sara und die drei kleinen gemeinsamen Söhne mieten sich dort in jenem Jahr eine Finca, sie soll der neue Lebensmittelpunkt sein, der Ort für einen Neustart in der Sonne und Wärme des Südens. Ullrich fährt Rad, doch irgendwann meldet sich sein Knie. Er muss pausieren. Das, sagt Ullrich, habe er nicht verkraftet. Er beginnt zu trinken. Später merkt Sara Ullrich, dass ihr Mann auch zu Kokain greift. Sein Wesen verändert sich merklich. 2018 entschließt sie sich zur Flucht nach Deutschland, sie nimmt die Kinder mit. Scheidung.

Zu viele Tiefschläge auf einmal

Für Jan Ullrich sind das zu viele Tiefschläge auf einmal. „Da war ich lost“, sagt er nun in einem Podcast. Zudem trägt er weiterhin die Last seiner nicht aufgearbeiteten Doping-Vergangenheit in sich.

In seiner Finca führt Ullrich, nun umgeben von falschen, ihn ausnutzenden Menschen, heute nennt er sie „Hyänen“, plötzlich das Dasein eines Unersättlichen: Whiskey, erst ein, dann bis zu zwei Flaschen am Tag. Kokain. Beides gleichzeitig. Das alles „macht dich innerhalb kürzester Zeit vom Menschen zum Monster“, sagt er dem „Stern“. Es gibt ein Video, das einen Tag dieses Absturzes dokumentiert. Zu sehen ist eine Person, die früher mal Jan Ullrich war. Ein Ullrich-Gespenst, das sich kuriose Wettkämpfe ausdenkt, wie jenen, Weltmeister im Rauchen zu werden: „Ich habe einmal 700 bis 900 Zigaretten an einem Tag geraucht. Ich weiß nicht, wie ich das überlebt habe. Das war totaler Quatsch.“

Ullrich ist nach Ansicht des Videos geschockt über sich selbst: „Ich war das Tier in mir. Du sprichst wie ein Tier. Whiskey und Kokain und das über Wochen – das macht was mit dir.“ Zum Beispiel macht das aus Ullrich einen Eindringling auf das Gelände seines Mallorca-Nachbarn Til Schweiger. Es wird laut. Polizei schreitet ein, Ullrich landet für eine Nacht im Knast.

Ein Freund hilft in der Not

Danach: Entzugsklinik in Bad Brückenau in Unterfranken. Abbruch. Verloren irrt Ullrich durch die Schweiz, weil er glaubt, sich dort in eine andere Klinik einweisen zu können. Es misslingt. In seiner Not ruft Ullrich seinen Freund Mike Baldinger in Merdingen an und bittet um Hilfe.

Nach all den falschen Freunden und schlechten Beratern und absurden Eidesstattlichen Versicherungen, die sein Leben beschweren, hat Ullrich nun jemanden gefunden, der ihn versteht und der ihm ohne Hintergedanken helfen will. Baldinger lotst Ullrich in seinen Wohnort Merdingen im Schwarzwald. Dort hat Ullrich in der Frühphase seiner Karriere bereits gelebt und trainiert. Ein Kreis scheint sich zu schließen. Alles wieder gut also?

Einst Rivalen, heute Freunde: Jan Ullrich (l.) und Lance Armstrong bei der Siegerehrung der Tour de France 2001. Armstrong gewann vor Ullrich.

Einst Rivalen, heute Freunde: Jan Ullrich (l.) und Lance Armstrong bei der Siegerehrung der Tour de France 2001. Armstrong gewann vor Ullrich.

Es kommt zu einem zweiten Absturz. Der ist mindestens so grauenhaft wie der erste. Ullrich strandet auf Umwegen auf der Rückreise von einem Kuba-Urlaub in Cancun. Baldinger kann aus der Ferne nichts ausrichten und ahnt, dass es nur eine Lösung gibt: Lance Armstrong. Der ist laut Baldinger der einzige Mensch, der Ullrich in diesem Moment erreichen kann, auf dessen Rat er hört. Armstrong fliegt tatsächlich mit dem Privatjet nach Mexiko, macht Ullrich klar, dass er das bevorstehende Weihnachtsfest mit seinen Kindern verbringen soll, das müsse ihm Antrieb sein und Hoffnung geben. Ullrich ist  in diesem Moment völlig derangiert, wieder nur ein in die Hülle seines Besitzers gehauchtes Phantom seiner selbst. Ullrich wird in Cancun aufgepäppelt und flugfähig therapiert, ehe er sich zurück nach Merdingen begibt.

Armstrong sei nun sein Freund, sagt Ullrich. Gemeinsam veranstalten sie Radcamps auf Mallorca. Es klingt bizarr, dass die beiden harten Rivalen von einst nun in Brüderlichkeit verbunden sein sollen. Doch Ullrich betont stets, dass er Armstrongs Bemühungen um ihn als aufrichtig empfindet.

Die Zeit des inneren Aufräumens bricht an

Allerspätestens jetzt muss die Zeit des seelischen Aufräumens beginnen, zumal Ullrich inzwischen selbst sagt: „Ich war nicht weit weg vom Tod.“ Sein engstes privates Umfeld, vor allem seine Ex-Frau Sara und Mike Baldinger kümmern sich in dieser Phase intensiv um den Patienten. Ullrich erhält psychologische Hilfe, die Arbeit mit einem Therapeuten lässt ihn erkennen, wo sein Fehler liegt: „Im Verdrängen.“ Eine Umkehr der Verhältnisse, das seelische Ausmisten, ein Doping-Geständnis, die Verarbeitung und das Aussprechen seiner Fehler, ist die einzige Therapie, die hilft. Ullrich gibt zu verstehen, dass diese Methode tatsächlich die erhoffte Wirkung gezeigt hat. Sein Rucksack, sagt er, sei deutlich leichter geworden. Und werde es immer weiter, je mehr er in diesen Tagen über seine Probleme von einst rede, über Epo-Spritzen und seinen Absturz.

„Man kann so viel mehr als man denkt“ – für Ullrich bedeutet das, dass er nun die Mitte zwischen Aufstieg und Fall finden will. Das Ergebnis der zwei Jahre währenden Doku-Reise in sein Inneres hat bei ihm vor allem eine Erkenntnis zu Tage gefördert: „Ich bin wieder hungrig aufs Leben.“ Und auf neue Aufgaben. Gerne im Radsport, seiner großen Liebe, sagt Ullrich.

Jan Ullrich, „Der Gejagte“, vier Folgen, Amazon Prime

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