ATP-FinalsWie sich Alexander Zverev aus der größten Krise seiner Karriere kämpft

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Zverev London Training

Alexander Zverev bei einer Trainingseinheit vor den ATP-Finals in London

Köln/London – Es ist ein Moment puren Frustes, den Alexander Zverev im Juli 2019 erlebt. Nach der Niederlage im Auftaktmatch von Wimbledon – dem prestigeträchtigsten Tennisturnier der Welt – gibt der gebürtige Hamburger Einblicke in sein Seelenleben. Juristische Streitigkeiten mit seinem früheren Manager Patricio Apey raubten ihm Nerv, Konzentration und in der Folge Leistungsfähigkeit. „Was gerade abgeht, ist abartig“, sagt Zverev. Er wirkt resigniert. Es ist ein weiterer herber Rückschlag, aber nicht der Tiefpunkt einer Entwicklung, die vor einem Jahr – nach dem größten Sieg seiner Karriere – einsetzte.

Rückblick: London, 18. November 2018. Alexander Zverev triumphiert bei den ATP-Finals, schlägt im Halbfinale Roger Federer und im Finale Novak Djokovic jeweils in zwei Sätzen. Der Deutsche Tennis-Bund (DTB) hebt seinen neuen Star in den Himmel, würdigt ein „Meisterwerk der Entschlossenheit, der Spielfreude und der Nervenstärke“. Von „imponierender Aufschlagstärke“ ist die Rede. Zverev gilt als aussichtsreichster Kandidat der sogenannten „NextGen“, der nächsten Tennis-Generation, die die jahrelange Dominanz des Trios Federer, Djokovic und Nadal durchbrechen soll. Neun Monate später sind all jene Attribute im Spiel des 22-Jährigen nicht mal mehr zu erahnen.

Alexander Zverev: 20 Doppelfehler gegen Miomir Kecmanovic

Cincinnati, 14. August 2019. Gegen den serbischen Qualifikanten Miomir Kecmanovic verliert Zverev beim ATP-Turnier sein erstes Spiel  7:6, 2:6, 4:6. Er serviert dabei unglaubliche 20 Doppelfehler und verpasst damit den Negativ-Rekord in einem Match über zwei Gewinnsätze von Guillermo Coria (23 Doppelfehler) nur knapp. Seinen Trainer Ivan Lendl hat Zverev zu diesem Zeitpunkt bereits geschasst – und ihn im Zuge dessen mit heftiger Kritik an dessen Verhalten in Trainingseinheiten öffentlich blamiert. „Er hat einen neuen Hund bekommen, zeigt ihm, wie man auf Toilette geht. Das ist wirklich sein Hauptthema. Und Golf“, sagte er über seinen 59-jährigen Coach. In Cincinnati jedenfalls erlebt Zverev auch ohne Lendl ein Debakel. Es ist der Tiefpunkt.

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Ein Turniersieg und eine Finalteilnahme bei den viertklassigen Turnieren in Genua und Acapulco waren bis dato die größten Erfolge Zverevs in diesem Jahr. Ansonsten reihten sich  Niederlagen zu frühen Zeitpunkten  aneinander. Auch bei den Grand-Slam-Turnieren gelang dem 22-Jährigen der Durchbruch nicht. Im Januar war er im Australian-Open-Achtelfinale gegen Milos Raonic chancenlos, Anfang Juni folgte die Viertelfinal-Niederlage bei den French Open gegen Novak Djokovic – ebenfalls ohne eigenen Satzgewinn. Zverev wartet nach wie vor auf seine erste Halbfinal-Teilnahme bei einem der vier größten Turniere. Zu wenig für einen, der seit nunmehr mehreren Jahren als die große Hoffnung im deutschen Tennis gilt.

Alexander Zverev: Der Weg aus der Krise

Dass sich Zverev trotz dieser über lange Zeit von Niederlagen geprägten Saison erneut für die heute beginnenden ATP-Finals in London qualifiziert hat, hat zwei Ursachen: Zum einen arbeitete er sich nach dem Cincinnati-Debakel aus der bislang größten Krise seiner Karriere langsam heraus. Bei den US Open erreichte er immerhin das Achtelfinale, in China und Shanghai schaffte er es ins Halbfinale und Finale. Zum anderen glänzte auch die Konkurrenz nicht mit Konstanz. Zverev, der sich als Siebter für das Turnier der besten acht Tennisspieler qualifizierte, kommt auf 2945 Punkte – in keinem Jahr zuvor reichten so wenige Zähler für die Teilnahme an den ATP-Finals.

 Der Italiener Marco Berrettini, der als Achter dabei ist, sammelte sogar noch rund 300 Punkte weniger. Beide qualifizierten sich beim finalen Masters-Turnier der Saison in Paris vor einer Woche für die Finals – bezeichnenderweise nicht dadurch, dass sie selbst außerordentlich erfolgreich gewesen wären, sondern weil die Konkurrenz noch früher im Turnier gescheitert ist. 

Daniil Medwedew ist der Spieler der Stunde

Für den Umstand, dass sich in dieser Saison keine acht erfolgreicheren Tennisspieler gefunden haben, können weder Zverev noch Berrettini etwas. Für den Deutschen bedeutet er aber, dass sich die Vorzeichen im Gegensatz zum Vorjahr verändert haben. 2018 reiste er zwar als Weltranglisten-Fünfter nach London, am Turnier nahmen aber mit Djokovic und Roger Federer nur zwei besserplatzierte Spieler teil.

Rafael Nadal und Juan-Martin del Potro – damals Nummer zwei und vier der Weltrangliste – sagten verletzungsbedingt ab und wurden durch Nachrücker ersetzt. So war Zverev erster Anwärter auf den Turniersieg, sollten die Routiniers schwächeln – zumal er im Vorfeld bereits drei große ATP-Turniere gewonnen hatte. Diese Rolle hat in diesem Jahr ein  anderer Spieler inne: Daniil Medwedew.

Der Russe ist der Spieler der Stunde. Nach dem Drittrunden-Aus in Wimbledon erreichte er nacheinander die Finals in Washington und beim Masters in Montreal. Das Turnier in Cincinnati gewann er, bei den US Open verlor er nach unglaublichem Kampf im Finale gegen Nadal in fünf Sätzen. „Vielleicht ist das gerade die Geburt eines neuen Superstars“, kommentierte Tennis-Legende Boris Becker in seiner Rolle als Experte beim TV-Sender Eurosport. 

John McEnroe: Daniil Medwedew  „eine Riesenbelebung, ein Typ, ein Charakter“

In der Folge gewann er noch die Titel in St. Petersburg und Shanghai. Niemand war seit August erfolgreicher als Medwedew, in der Weltrangliste ist er bis auf knapp 500 Punkte an Federer herangerückt. Zuletzt plagten ihn zwar kleinere körperliche Probleme, dennoch traut ihm neben Becker auch weitere Tennis-Prominenz zu, dem Trio Nadal, Djokovic und Federer dauerhaft gefährlich zu werden. A

ls „Riesenbelebung, ein Typ, ein Charakter“ bezeichnet ihn der siebenfache Grand-Slam-Sieger John McEnroe. „Er hat alle anderen jungen Spieler, die vor ihm im Rampenlicht standen, innerhalb der letzten sechs Monate überholt“, sagt Andy Roddick, ehemalige Nummer 1 der Welt.

Rafael Nadal bangt um Teilnahme an ATP-Finals

Die aktuelle Nummer 1, seit Anfang der Woche wieder Rafael Nadal, muss erneut um die Teilnahme an den ATP-Finals bangen. Im Training vor dem Halbfinale von Paris zog sich der Spanier eine Bauchmuskel-Verletzung zu und konnte nicht antreten. Ob der 19-fache Grand-Slam-Champion rechtzeitig fit wird, ist unklar. Novak Djokovic, der sich bei und nach den US Open mit einer Schulter-Verletzung plagte, präsentierte sich hingegen zuletzt in Topform.

Das Masters in Paris gewann er ebenso ohne Satzverlust wie die Japan Open Anfang Oktober. Roger Federer gewann zuletzt sein Heimatturnier in Basel, die Swiss Indoors. Auch der Grieche Stefanos Tsitsipas, der mit ähnlichen Ambitionen in die Saison gestartet war wie Zverev und nach gutem Start ein ähnliches Formtief durchlief, feierte zuletzt kleinere Erfolgserlebnisse.

Für Alexander Zverev ist die Reise nach London der Abschluss unter eine Saison, in der er an hohen Erwartungen gescheitert ist und den erhofften Durchbruch nicht geschafft hat.

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