Manager-Legende wird 75Reiner Calmund über sein Leben „als Unruhegeist“ und „Strippenzieher“

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Reiner Calmund während des Interviews mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ im Hotel Dorint am Gürzenich

Reiner Calmund während des Interviews mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ im Hotel Dorint am Gürzenich

Die rheinische Manager-Legende Reiner Calmund feiert am Donnerstag ihren 75. Geburtstag. 

Herr Calmund, Sie werden am Donnerstag 75 Jahre alt, sind aber weiter sehr präsent und haben ein gewaltiges Pensum mit vielen öffentlichen Auftritten. Genießen Sie das weiterhin, oder wollen Sie irgendwann mal kürzertreten?

Reiner Calmund: Ich brauche das einfach. Ich bin ein Unruhegeist und brauche Action. Meine Frau und ich machen ja viele Kreuzfahrten. Ich weiß gar nicht, ob sie die bucht, weil sie ihr so gefallen oder ob sie mich damit immer ein bisschen aus dem Verkehr ziehen will – obwohl ich an Bord ja auch meine Auftritte habe (lacht).

Können Sie denn überhaupt „Nein“ sagen?

Ich sage nicht gerne Nein. Aber ich muss es öfter machen, als es die meisten glauben. Ich kann nicht mehr jede Anfrage annehmen.

Wie viele Kontakte sind eigentlich auf Ihrem Handy gespeichert?

Sehr viele. Meine Frau weiß das besser als ich. Wartet mal... (Pause). Sie antwortet, es sind 4518 Nummern.

Ist Reiner Calmund eine Marke?

Das sagen und schreiben viele. Aber ich sehe mich nicht als Marke, dennoch fühle ich mich davon schon etwas geschmeichelt.

Finanziell haben Sie diese Auftritte aber nicht mehr nötig, oder?

Nein, ich brauche das eigentlich nicht mehr. Es tut mir aber doppelt gut, sowohl der Applaus des Publikums als auch die Wertschätzung der Kollegen – und dabei noch ein paar Mark hinzuverdienen, ist doch nicht schlecht.

„Wofür stehen Sie mit 75 Jahren?“

Ich bin ein Strippenzieher, der aber an keiner fiesen Strippe zieht. Ich kenne mich im Fußball immer noch gut aus. Die Wege sind kurz.

Und wie gehen Sie mit Ihrem besonderen Geburtstag um?

Ich habe ja damals zum 60. in meinem Buch „fussballbekloppt!“ geschrieben: „ Ein Spiel dauert 90 Minuten. Und ein Leben?“ Mit 90 Jahren wäre ich allemal zufrieden, allerdings hätte ich auch nichts gegen ein paar Verlängerungsminuten oder -Jahre. Ich bin froh, dass ich jetzt die 75 knacke. Dass es mir so gut geht, habe ich meiner Frau zu verdanken. Sie passt auf mich auf.

Als Sie fünf Jahre alt waren, ist Ihr Vater sehr jung als Fremdenlegionär im Indochinakrieg gestorben. Ihm war das Alter nicht vergönnt.

Er ist wegen eines Krachs mit meiner Mutter in die Fremdenlegion gegangen, was er schnell bereut hat. Das hat mich in jungen Jahren natürlich sehr bewegt. Ich habe angefangen, Akkordeon zu spielen, weil er auch gespielt hatte.

Sie haben mit Ihrer Ehefrau Sylvia 2013 eine Tochter adoptiert. Welche Rolle spielt Nicha für ihr Alter?

Das war für uns das Größte. Sie ist für mich eine Art Jungbrunnen. Ich habe sechs Kinder, aber die wissen alle: Nicha ist meine Prinzessin, meine Nummer eins. Die Adoption hat uns sehr viel bedeutet. Die Verbindung zu Sylvia in Thailand war sofort da, sie wollte nur zu ihr. Nicha hatte in ihrem letzten Zeugnis viele gute Noten, aber dass da stand, dass sie im sozialen Verhalten absolute Spitzenklasse ist, macht mich stolz.

Im Oberbergischen war ich bekannt wie ein bunter Hund, das war irgendwann alles ein bisschen viel – immer: Calli hier, Calli da
Reiner Calmund über seinen Umzug vom Rheinland ins Saarland

2012 sind Sie vom Rheinland ins Saarland gezogen. Warum?

Im Oberbergischen war ich bekannt wie ein bunter Hund, das war irgendwann alles ein bisschen viel – immer: Calli hier, Calli da. Der Umzug war für mich auch gesundheitlich das Beste, aber es war in erster Linie für Nicha, um ihr eine optimale Umgebung zu bieten. Wir haben andere Optionen abgewogen, sind aber dann ins Saarland gezogen, weil es nicht nur schön ruhig ist, sondern weil es für ihre Bedürfnisse die optimale schulische Betreuung gibt. Das waren sechs Richtige im Lotto.

Dieses „Calli hier, Calli da“ – können Sie das noch ab?

Als junger Mann war das schön, da hat das einem geschmeichelt. Ein bisschen Zucker in den Hintern geblasen bekommen, war schon nett. Aber es wurde mit dem Alter intensiver, das war mir dann oft zu viel.

2004 folgte Ihr Aus bei Bayer 04. Wären Sie gern noch länger Manager im Fußballgeschäft geblieben?

Ich bin nach meiner Zeit in Leverkusen 2004 noch als DFB-Delegierter zur EM in Portugal gefahren. Danach nahm ich mit meiner Frau eine vierwöchige Auszeit in den USA. Ich wollte Abstand gewinnen und war mir relativ sicher, dass ich nicht mehr Manager sein will, obwohl ich vernünftige Angebote auf dem Tisch liegen hatte. Ich war aber nervlich ziemlich ausgebrannt. Und dann gibt es eben manchmal glückliche Zufälle. Als das Flugzeug wieder in Düsseldorf aufsetzte, klingelte mein Telefon und RTL unterbreitete mir das Angebot für die Sendung Big Boss. Das wurde nicht nur richtig gut bezahlt, sondern hatte auch zur Folge, dass ich mehrere lukrative Werbeverträge erhalten habe und für große Vorträge gebucht wurde. Das war wie ein Domino-Stein, plötzlich machte es klack-klack-klack. Insgesamt verdiente ich plötzlich mehr als in meinem alten Job bei Bayer Leverkusen. Das ist kein Vorwurf, aber so war es. Das hat mir die Entscheidung, aus dem Haifischbecken Bundesliga auszusteigen, leichter gemacht. Ich bereue es Nullkommanull, ich war später nie gefährdet, rückfällig zu werden.

Bayer 04 spielt in dieser Saison wohl um Titel mit. Sehen Sie Erfolge des Klubs immer noch als Teil ihres Lebenswerks an?

Ja, zu 100 Prozent. Ich hätte natürlich nichts direkt mit einem Titel zu tun. Aber die Verbindungen sind noch da und mein Herz schlägt nach wie vor für den Klub und all seine Mitarbeiter. Die heutige Führungsebene macht einen hervorragenden Job. Fernando Carro spielt in der obersten Liga mit seinen ganzen Kontakten. Er ist ein echter Glücksfall. Simon Rolfes und Xabi Alonso machen einen Top-Job.

Was würde die Meisterschaft denn in Ihnen auslösen?

Ich wäre total happy. Ich würde die Schale hochheben und ihr zuflüstern: „Schön, dass du doch mal in Leverkusen vorbeikommst.“ (lacht)

Ist Bayer 04 reif für den Titel?

Wir waren vor über 20 Jahren auch mehrmals reif für den Titel. Bayer hat aktuell sicher eine der besten Mannschaften der Klubgeschichte.

Bildnummer: 09492821  Datum: 20.05.2000  Copyright: imago/Pressefoto Baumann
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Strippenzieher mit Schalk im Nacken: Reiner Calmund im Jahr 2000 während seiner Tätigkeit als Manager von Bayer 04

Hat das eine Narbe bei Ihnen hinterlassen, dass es trotz gleich mehrerer bester Möglichkeiten während ihrer Manager-Jahre nie zur Meisterschaft gereicht hat?

Nein. Nehmen wir die Saison 1999/2000, in der wir die größte Chance zum Titel hatten. Michael Ballack war zu der Zeit ein absoluter Weltklassespieler, einer der ganz wenigen damals in Deutschland. Dass ihm im entscheidenden Spiel am letzten Spieltag ein Eigentor in Unterhaching unterläuft (am 20. Mai 2000 zum 0:1, Endstand 0:2), das ist Fußball. Der kann manchmal auch grausam, ungerecht und unerklärlich sein. Die Vize-Meisterschaften 1997 und 1999 verbuche ich dagegen als absolute Erfolge. Viele vergessen, dass wir 1996 so gut wie abgestiegen waren und nur dank des späten Treffers von Markus Münch in der Liga geblieben sind. Die Saison 1996/97, die erste unter Trainer Christoph Daum, war dann ein Quantensprung für uns. Denn erstmals war der Vizemeister direkt für die Champions League qualifiziert. Dass wir am vorletzten Spieltag durch einen Dreierpack von Toni Polster mit 0:4 verloren hatten und damit in Köln die Meisterschaft vergeigten, war schon bitter. Er hat sich damals telefonisch bei mir dafür entschuldigt – das war nett, aber das half uns auch nicht mehr (lacht).

Gibt es rückblickend eine Entscheidung, für die Sie sich besonders feiern, beziehungsweise die sie bereuen?

Wenn ich Bilanz ziehe, bin ich zufrieden. Natürlich gab es mal den einen oder anderen Transfer oder eine andere personelle Entscheidung, die nicht aufgegangen sind. Als ich bei Bayer 04 anfing war der Klub in der 2. Bundesliga und es ging darum, drin zu bleiben. Den Bundesliga-Aufstieg 1979 haben wir mit einer ganz günstigen Mannschaft geschafft. Selbst beim ersten großen Titelgewinn, den Uefa-Pokal-Sieg 1988, waren wir wahrlich noch nicht auf Rosen gebettet. Im Viertelfinale gegen den großen FC Barcelona mit Andoni Zubizarreta, Bernd Schuster oder Gary Lineker kamen wir durch ein Tor des Brasilianers Tita weiter – er war in der Winterpause für 250.000 Euro gekommen. Im Halbfinale gegen Werder Bremen war das Tor von Alois Reinhardt entscheidend. Und im Final-Rückspiel gegen Espanyol Barcelona erzielten der aus der DDR geflohene Falko Götz, Bum-kun Cha, der mit 500.000 Euro Ablöse der teuerste Spieler im Kader war, und erneut Tita die Tore. Und der Held im Elfmeterschießen war dann Rüdiger Vollborn. Den hatten wir als 18-Jährigen für 20.000 Euro von Blau-Weiß Berlin geholt. Unsere vier Match-Winner haben damals rund 750.000 Euro gekostet.

Der 88er-Titel wurde auch gewürdigt. Beim Pokalsieg 1993 gegen Hertha BSC II war das ganz anders. Bei der Siegerehrung wurde Bayer im Olympiastadion ausgepfiffen. Hat Ihnen das wehgetan?

Das war nicht schön. Im Halbfinale hatten wir schließlich mit 3:0 bei Eintracht Frankfurt gewonnen, der vielleicht besten Mannschaft in dieser Saison. Da kam einiges zusammen: Die Hertha-Bubis waren der gefeierte Außenseiter, der das Finale in der Heimatstadt bestritt. Und dann waren einige Leute richtig sauer auf mich nach meinem Trainerwechsel. Fünf Spieltage vor Saisonende hatte ich nach einer Talfahrt unseren damaligen Trainer Reinhard Saftig beurlaubt. Dragoslav Stepanovic, im Halbfinale zuvor noch Trainer der Frankfurter, hatte ich schon als Trainer für die neue Saison verpflichtet, doch dann übernahm er eben schon ab dem 30. Spieltag. Für solche harten Entscheidungen bekommt man keine Blumen und keine tollen Schlagzeilen, das war mir klar. Aber sie waren am Ende richtig. Stepi verteidigte mit Spielern wie Ulf Kirsten und Andreas Thom, die ich unmittelbar nach der Wende aus der DDR verpflichtet hatte, den Uefa-Pokal-Platz und holte den Pokal.

Stepanovic wollte auch nicht auf dem Siegerfoto sein. Die Ehrung wurde nicht einmal live gezeigt, die ARD gab zur Werbung und dann zur Tagesschau ab. Und auch mit dem ZDF-Sportstudio gab es danach Ärger.

Ja, es war ein denkwürdiger Tag. Wir wollten feiern, doch das ZDF hatte uns bis zur Schalte ins Teamhotel Esplanade 30 Minuten warten lassen. Moderator Günther Jauch lästerte erst, dass ich ausgesehen hätte wie Antje, das NDR-Walross und konfrontierte mich mit einer Schlagzeile einer Zeitung, dass ich beim Verpassen des Europapokals nach Sibirien geflohen wäre. Ich entgegnete Jauch, das hätte ein Reporter in die Welt gesetzt, der selbst scharf war mitzureisen, vermutlich wegen der russischen Frauen, Kaviar und Krimsekt. Der war dann auch noch sauer auf mich, dabei hatte ich ihn namentlich überhaupt nicht erwähnt. Jauch brach die Schalte dann ab. Sie erwähnen oft, dass Christoph Daum und Erich Ribbeck, der 1988 mit Bayer 04 den Uefa-Pokal holte, Ihre besten Trainer gewesen seien. Wie enttäuscht und verärgert waren Sie über Daum nach dessen positiver Haarprobe im Jahr 2000?

Das war natürlich ein Knall, der für riesigen Ärger sorgte. Doch mir war schlagartig klar, dass ich ihm helfen musste. Ich sorgte dafür, dass Christoph sofort in die USA flog, um abzutauchen. Doch selbst diese Affäre hielt unsere bis heute anhaltende Freundschaft aus.

Welcher Klub wollte Sie mal abwerben?

Ich hatte neben Bayer drei Lieblingsvereine mit Köln, Schalke und Hertha. Von allen drei gab es Angebote. Nachdem ich dem FC abgesagt hatte, habe ich ein paar Flaschen Wein getrunken. Am nächsten Tag war alles wieder okay, ich arbeitete mit Volldampf für Bayer weiter.

Mittlerweile hat sich mein Gewicht bei 105, 106 Kilo eingependelt, ich fühle mich jetzt sauwohl und verspüre mehr Lebensqualität
Reiner Calmund über sein Befinden nach seiner Magen-OP

Sie haben sich noch mal körperlich neu erfunden. Anfang 2020 unterzogen sich einer viel beachteten Operation und ließen sich den Magen verkleinern. Mit Erfolg. Hätten Sie die OP früher machen sollen?

Natürlich. Aber es bringt nichts zu hadern, ich blicke lieber nach vorne. Der Eingriff ist mir gut bekommen. Ich hatte zuvor ja viel probiert, um abzunehmen, auch durch Sport, aber danach kam prompt wieder der gefürchtete Jo-Jo-Effekt. Ich hatte in meinem Alter und bei meinem Gewicht keine andere Chance mehr als durch eine OP, das irgendwie reguliert zu bekommen.

Was war Ihr Höchstgewicht?

187 Kilo – ich sage aber immer 185 (lacht). Den ganz dicken Calli gibt es aber nicht mehr. Und das ist gut so. Ich fühle mich besser.

Im Thailand-Urlaub 2016 erlitten Sie eine beidseitige Lungenembolie. Wie stand es um Sie?

Es war kritisch – auch wenn mir das damals gar nicht so bewusst war. Noch nicht einmal auf der Intensivstation. Ich hatte ja zuvor keine schwerwiegenden Krankheiten, keine Operationen. Mir sind einmal die Mandeln rausgenommen worden, das war über 60 Jahre her. Man hätte bei mir die Magen-OP auch gar nicht vorgenommen, wenn ich ein Risiko-Patient gewesen wäre. Trotzdem hatte ich ein bisschen Schiss. Aber alles verlief optimal. Einziger Unterschied: Bei mir brauchten die Ärzte sieben statt fünf Löcher für den endoskopischen Eingriff, aber die Sieben ist auch meine Lieblingszahl.

Sie mussten nach der OP Ihre Ernährung umstellen, anfangs gab es nur Suppen und Brei. Wie ist es heute: Spüren Sie Verzicht?

Gar nicht. Ich spüre keinen Verzicht und esse wieder lecker. Aber es ist so, dass du durch die Magenverkleinerung ein früheres Sättigungsgefühl bekommst. Nach der OP hatte ich mit knapp 100 Kilo mehr abgenommen als ich wollte. Da war ich zu schmal und mir fehlte die Energie. Mittlerweile hat sich mein Gewicht bei 105, 106 Kilo eingependelt, ich fühle mich jetzt sauwohl und verspüre mehr Lebensqualität.

Wie schauen Sie in die Zukunft?

Ich versuche, gesund zu bleiben und so viel Schönes wie nur möglich zu erleben. Ich möchte mit meiner Familie glücklich sein – und hier und da meine Meinung kundtun. (lacht)

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