Tod von Gerd MüllerTrauer um „den größten Stürmer, den es je gegeben hat“

Lesezeit 5 Minuten
imago0021405768h

Gerd Müller erzielt 1974 im WM-Finale gegen die Niederlande das Tor zum 2:1, das Deutschland zum Weltmeister machte.

  • Den Mittelstürmer mit den mächtigen Beinen interessierten nur Treffer, sonst nichts.
  • Seine vielen Tore machten Deutschland zum Weltmeister und die Bayern zum Welt-Klub.
  • Nach der Karriere wurde der Stürmer vom Leben überfordert und vom Verein wieder aufgefangen.

Köln – Der ungewöhnlichste Spieler der deutschen Fußball-Geschichte ist am Sonntagmorgen nach langem Demenzleiden im Alter von 75 Jahren gestorben. Der FC Bayern München hat die Nachricht von Gerd Müllers Tod um die Mittagszeit vermeldet. „Heute ist ein trauriger, schwarzer Tag für den FC Bayern und all seine Fans. Gerd Müller war der größte Stürmer, den es je gegeben hat – und ein feiner Mensch, eine Persönlichkeit des Weltfußballs", erklärte der Verein „in tiefer Trauer vereint mit seiner Frau Uschi sowie seiner Familie“. Der FC Bayern wäre ohne Gerd Müller nicht der Klub geworden, den man kennt, erklärte der Verein. Das ist eine nicht zu widerlegende Tatsache.

Gerd Müller hat das Spiel auf Tore reduziert. Ihn interessierte sonst nichts, er konnte auch nichts sonst. Diese eine Fähigkeit war allerdings so einzigartig, als würde jemand überall, wo er in der Erde gräbt, einen Klumpen Gold finden. Müller erzielte 365 Tore in 428 Bundesligaspielen, 68 in 62 Länderspielen, 67 in 74 Europacupspielen, 78 in 62 Pokalspielen, 14 in zwölf WM-Spielen. Hinzu kommen 33 Regionalliga-Tore bei 26 Spielen in Müllers erster Bayern-Saison. Macht 624 Tore in 664 Pflichtspielen oder 0,94126 Tore pro Spiel in 15 Jahren. Ohne diese Tore wäre Deutschland 1974 nicht Weltmeister geworden, 1972 nicht Europameister, Bayern München nicht dreimal Europapokalsieger der Landesmeister und einmal Europapokalsieger der Pokalsieger. Ohne diese Tore gäbe es den FC Bayern München, wie ihn die Welt heute kennt, nicht. Und der deutsche Fußball hätte sich ganz anders entwickelt.

Das könnte Sie auch interessieren:

Es ist wichtig, den Menschen heute zu erklären, dass die Menschen schon damals nicht wussten, wie Gerd Müller das gemacht hat, denn er verfügte über keine der Fähigkeiten, die als Parameter für großes Fußball-Talent gelten. Er war nicht besonders schnell, nicht besonders ausdauernd, konnte nicht besonders hoch springen, hatte kein besonderes Passspiel. Uli Hoeneß, damals Mitspieler und später Architekt des modernen FC Bayern, hat das in einem Interview mit „Münchner Merkur/tz“ vor Müllers 75. Geburtstag so erklärt: „Das ganz Besondere an ihm war sein unglaublicher Tor-Instinkt. Robert Lewandowski zum Beispiel ist sicher ein super Stürmer, und es kann sogar sein, dass er in dieser Saison Gerds Bundesligarekord von 40 Toren bricht. Aber er schießt keine Tore wie Gerd mit dem Schienbein, der Brust oder mit dem Knie. Gerd war das völlig wurscht, wie er den Ball reinkriegt. Der musste nur irgendwie über die Linie. Robert ballert die Dinger ins Netz, beim Gerd blieb der Ball oft nur Zentimeter hinter der Torlinie liegen.“

Gerd Müller wuchs auf im schwäbisch-bayerischen Städtchen Nördlingen, das durch seine mittelalterliche Stadtmauer und den verheerenden Einschlag eines Meteoriten vor 15 Millionen Jahren bekannt ist. Das so genannte Ries-Ereignis hätte, in die Jetzt-Zeit übertragen, die Zivilisation von halb Mitteleuropa ausgelöscht. Müllers Einschlag in die Welt des deutschen Fußballs war weniger zerstörerisch, aber ähnlich stark. Als er 1964 beim FC Bayern auftauchte, mit mächtigen Oberschenkeln und der Empfehlung von 180 Toren in der letzten A-Jugend-Saison für seinen Heimatklub TSV Nördlingen in einer einzigen Saison, entgegnete der legendäre Bayern-Trainer Tschik Cajkovski: „Was soll ich denn mit einem Gewichtheber?“ Präsident Wilhelm Neudecker befahl jedoch, dass der quadratische Stürmer (1,76 m, 80 kg) zu spielen hatte. Beim Bayern-Debüt gegen den FC Freiburg in der Regionalliga erzielte Müller ein Tor. Seine Eignung stand fortan außer Zweifel.

493C8C79-A055-4C44-9D40-0014F12D33E6

Kollegen unter sich: Gerd Müller mit Uli Hoeneß im Jahr 1973.

Trotz des Genies eines Franz Beckenbauer und der Reaktionsschnelligkeit eines Sepp Maier, trotz der Wucht eines Uli Hoeneß und der strategischen Exzellenz eines Paul Breiter war der Tor-Wahnsinn von Gerd Müller das größte Kapital des FC Bayern München in der Phase des Aufstiegs zum Welt-Verein. Uli Hoeneß erinnert sich an ein besonders spektakuläres Beispiel dieser Gier. Es ereignete sich 1972 während der Einweihung des Münchner Olympiastadions beim Länderspiel gegen die UdSSR. Hoeneß hatte den gegnerischen Torwart ausgespielt und war bereit, den Ball ins leere Tor zu schießen. „Auf einmal kommt jemand von hinten, grätscht mich um. Ich lieg im Tor, der Ball liegt im Tor – Torschütze Gerd Müller. Der hat mich einfach von hinten mit dem Ball ins Tor gehauen. Da war ich schon ein bisserl sauer. Und trotzdem konnte ich ihm letztlich nicht böse sein. Das war einfach sein Elixier.“

Müllers wichtigstes und vielleicht typischstes Tor fiel am 7. Juli 1974 in der 43. Minute des WM-Finales Deutschland – Niederlande in München. Der Pass kam von Bonhof, der rechts zur Grundlinie durchgelaufen war, Müller sprang der Ball zwei Meter vom Fuß, er musste vom Tor weglaufen, um ihn einzuholen und eine dieser physikalisch kaum erklärbaren Drehungen machen, um ihn am verdutzten Torhüter Jongbloed vorbei ins Tor zu schießen. Deutschland war Weltmeister und Müller, gerade 28, beendete seine Karriere in der Nationalmannschaft, weil die DFB-Funktionäre nach dem Titelgewinn die Spielerfrauen nicht mit auf das Bankett eingeladen hatten.

Der Mensch Gerd Müller war, bescheiden, frei von Eitelkeit und völlig überfordert mit einem Leben ohne Fußball. Nachdem er den FC Bayern im Frühjahr 1979 verlassen und seine Karriere in den USA beendet hatte, ersetzte der Alkohol das Toreschießen. Müller hatte seine große Familie, den FC Bayern, verloren und war dabei, den einzigen Menschen, der ihm wirklich nahestand, seine Ehefrau Uschi, auch noch zu verlieren. Aber seine alten Kameraden Uli Hoeneß und Franz Beckenbauer holten ihn zurück in den Schoß des FC Bayern. Gerd Müller machte eine Entziehungskur, rettete seine Ehe und bekam 1992 den Job als Assistenz-Trainer der zweiten Mannschaft, den er bis zum Ausbruch seiner Krankheit im Jahr 2014 ausübte.

„Die Nachricht von Gerd Müllers Tod macht uns alle tief betroffen. Er ist eine der größten Legenden in der Geschichte des FC Bayern, seine Leistungen sind bis heute unerreicht und werden auf ewig Teil der großen Geschichte des FC Bayern und des gesamten deutschen Fußballs sein“, erklärte der Münchner Vorstandschef Oliver Kahn. „Gerd Müller steht als Spieler und als Mensch wie kaum ein anderer für den FC Bayern und seine Entwicklung zu einem der größten Vereine weltweit. Gerd wird für immer in unseren Herzen sein.“

KStA abonnieren