Vor 50 JahrenNetzers Sternstunde in Wembley

Günter Netzer riss die Partie in Wembley damals an sich.
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Noch vor dem Spiel, das ihn und seine Mitspieler 90 Minuten später zu Helden einer Nacht emporsteigen lässt, meldet sich der spaßbremsende Zweifel bei Günter Netzer, dem Spieler mit der Nummer zehn aus Mönchengladbach. Eigentlich will er gar nicht hinausgehen in die jetzt schon tobende Arena mit ihren 96 800 anwesenden Zuschauern. Noch in der Kabine, auf dem Weg nach draußen, klopft Netzer seinem Kollegen Franz Beckenbauer, der neben ihm sitzt, auf den Oberschenkel und sagt: „Wenn wir heute weniger als fünf Stück bekommen, haben wir ein erstklassiges Resultat erreicht.“ Nun, es werden deutlich weniger als fünf Stück an jenem 29. April 1972 in Wembley, es wird überhaupt alles anders, als es Netzer erwartet. 3:1 gewinnt die deutsche Elf in England. Was nüchtern klingt, ist vor 50 Jahren ein großes Ereignis.
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Denn erstmals siegt ein DFB-Team in England, noch dazu in Wembley, der mythischen Arena, in der Deutschland vor allem wegen eines Phantomtores sechs Jahre zuvor das WM-Finale gegen denselben Gegner verlor. Jetzt, in diesem Viertelfinal-Hinspiel der EM 1972, behaupten sich die Deutschen nicht nur, sie spielen auch noch besonders ästhetisch Fußball. Und mittendrin Günter Netzer, der ohnehin schon fabelhafte Spieler, dem an diesem April-Abend im Nieselregen von Wembley das Spiel seines Lebens gelingt.
Wolfgang Overath wegen Leistenverletzung nicht dabei
Ersatzgeschwächt spielt Deutschland im Übrigen, Wolfgang Overath etwa, Netzers direkter Konkurrent und Freund vom 1. FC Köln, fällt wegen einer Leistenverletzung aus. Auch der durchaus vorgesehene Kölner Abwehrspieler Wolfgang Weber kann nicht spielen. Es fehlen weitere wichtige Stützen der Elf, dazu sind Beckenbauers Bayern nicht in Form und müssen in den Wochen vor Wembley eine rätselhafte Serie an Niederlagen hinnehmen. Das alles forciert die Skepsis bei Netzer und lässt ihn seine Fünf-Gegentor-Prophezeiung aussprechen. Zumal „der Franz mir eher zugestimmt hatte. Protestiert hat er nicht.“
Diese beiden besonderen Spieler der deutschen Elf, Netzer und Beckenbauer, kreieren dank ihrer Intuition in Wembley ein Wechselspiel – Netzer vorne, Beckenbauer hinten und umgekehrt –, das die Betrachter ständig im Überfluss staunen und den Boulevard vom „Ramba-Zamba-Fußball“ schreiben lässt. „Wir hatten unseren Bundestrainer Helmut Schön gar nicht eingeweiht. Er hat das hingenommen. Das war von der ersten Minute an vertrauenserweckend, was wir da spielten“, sagt Netzer im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ zu dieser spontanen Maßnahme.

Günter Netzer bei seinem Elfmeter-Treffer in Wembley.
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Wembley, jenes 3:1, gilt als die Geburtsstunde einer ganz besonders spielstarken deutschen Mannschaft, einer Elf, die einen Gegner mit feinstem Fußball verwirrt, die sich berauschen kann an ihrer Spielkunst, die aber eben auch gewinnen kann, also beide Elemente – das Schöne und das Wichtige – miteinander vereint. „Das ist mein Kriterium von perfektem Fußball“, sagt Netzer: „Dieses wunderschöne Spiel wurde umgemünzt in Spektakel, Tore und Siege.“ Die Deutschen erreichen nach einem 0:0 im Rückspiel gegen England 14 Tage später in Berlin das Vierer-Endturnier in Belgien. Das EM-Finale gewinnen sie Mitte Juni in Brüssel mit 3:0 gegen die Sowjetunion.
Günter Netzer zwang allen seinen Willen auf
Zuvor gibt es in Wembley mehrere Szenen, in denen Netzer sich den Ball in der eigenen Hälfte zuspielen lässt und mit ihm dann nach vorne stürmt, ihn passgenau einem Stürmer zuliefert, sich danach wieder freilaufend, die blonden Haare wehen dabei in der Luft. Diese Bilder vor allem bleiben übrig von diesem Abend aus deutscher Sicht: Wie es ein Spieler vermochte, allen seinen Willen aufzuzwingen. Darauf springt auch der Kölner Karl Heinz Bohrer an, Feuilletonist und Kulturreporter der FAZ in London. Er äußert sich in einem „Wembley“ überschriebenen Artikel Ende Oktober 1973 fasziniert über all das, was der deutschen Elf da im April 1972 gelungen ist. Bohrer besucht im Herbst 1973 das Stadion, in dem England gegen Polen 1:1 spielt und damit die WM-Qualifikation verpasst. Es geht Bohrer um den „thrill“ des „England“-Anfeuerungs-Schreis des Publikums, etwas, was er mit Erdbeben und Schauer gleichsetzt.Ihm fällt nur ein Beispiel aus der Wembley-Geschichte ein, um seinen Gedanken zu untermauern: „Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte »thrill«.“ Für Bohrer ist dieser Netzer-Thrill ein nicht erwartetes Manöver, „die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum“. Netzer, der Jung-Siegfried aus der Tiefe des Raumes, ist der Eroberer dieser Festung. Und gerührt über Bohrers Sätze: „Das war vielleicht das größte Kompliment, das mir ein Feuilletonist gemacht hat. Dass war ein Ritterschlag für den Fußball, dass das Feuilleton sich mit diesem Sport beschäftigte.“

Angeführt von Franz Beckenbauer läuft die deutsche Nationalmannschaft in Wembley ein.
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Das 3:1 klingt letztlich deutlich klarer als es war. Uli Hoeneß, damals gerade 20 Jahre jung, erzielt das 0:1 (26.), doch Francis Lee gleicht spät, nach 77 Minuten, aus. Die Deutschen aber agieren weiter offensiv: „Wir haben das einfach zu Ende gespielt. Dass dann immer wieder Torchancen entstanden sind, war die Folge unseres famosen Spiels“, sagt Netzer. Nach einem Foul an Siggi Held im Strafraum erhalten die Deutschen in der 84. Minute einen Elfmeter, den nicht der eigentlich vorgesehene Münchner Stürmer Gerd Müller verwandelt, sondern Günter Netzer. „Ich konnte den Gerd nicht finden. Dann kam der Helmut Schön von draußen und hat gesagt, ich solle schießen“, sagt Netzer. Es wird ein Zitter-Elfmeter. Netzer verwandelt gerade so. Englands Torwart Gordon Banks berührt den Ball noch, Netzer sagt: „Mein lieber Mann, es war so was von knapp. Deswegen auch der extreme Freudensprung danach. Das war äußerstes Glück, aber das gehörte einfach zu dem Tag, der mein Tag war, dazu.“ Schließlich trifft der wieder auffindbare Müller noch, 88. Minute, 3:1 für Deutschland.Später, in seinen Memoiren, erinnert sich Helmut Schön mit Wonne an jenen Erfolg und an seinen Spieler mit der Nummer zehn: „Es war Günter Netzers größtes Spiel. Ich werde es mein Leben lang nicht vergessen, dieses Bild: Wie er unter dem Flutlicht mit wehendem langen blonden Haar durch das Mittelfeld stürmte, den Ball am Fuß – das war einfach ein herrlicher Anblick.“ Oder schlicht „thrill“.